Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Aufkreischen, Rasseln und Zukrachen. Denn ich wurde mit verbundenen Augen eingeliefert, mit verbundenen Augen zu den Verhören abgeführt, mit verbundenen Augen zurwöchentlichen Dusche und zum Zahnarzt eskortiert. Mit verbundenen Augen wurde ich auch entlassen. Nur mit Hilfe eines kleinen Tricks sah ich manchmal einen winzigen Teil meiner Mitgefangenen. Wenn ich mit verbundenen Augen in den Aufzug geschoben wurde, um in irgendein oberes Stockwerk zum Verhör gebracht zu werden, senkte ich den Kopf und konnte, weil das Handtuch über meinen Augen auch über die Nase gezogen war und dort ein wenig abstand, die nackten Fersen der Häftlinge rings um mich für die Dauer des Aufzugstransportes betrachten. Rauhe Fersen der schon länger Einsitzenden, starke männliche und dünne, gebrechlich anmutende Frauenfersen. Mehr nicht. Das war mein einziger Kontakt mit Mitmenschen. Aufseher und Untersuchungsbeamte gehörten einer anderen Kategorie an.
Und nun saß ich bei mir zu Hause, auf den Polstern meiner Couch, mein Herz flatterte, und meine Augen standen weit offen. Erst jetzt lernte ich die Rundgänge und Gitter und Gatter in Ruzyně kennen, die Außenseiten der mit Metall beschlagenen Zellentüren, den ganzen unmenschlichen Mechanismus des Zuchthausbetriebes. So also sah es dort aus. Merkwürdig, ich hatte mir doch wirklich die ganze Zeit nicht vorgestellt, in einem klassischen Zuchthaus zu sitzen, in solch einem Unding, wie man es normalerweise nur aus Filmen kennt. So ahnungslos oder naiv war ich damals.
Ab und zu wandte ich den Kopf vom Bildschirm, blickte mich in meinem Zimmer um, wurde mir der Absurdität meiner Konfrontation mit dieser vorgetäuschten Wirklichkeit bewußt, die meine steinharte Wirklichkeit gewesen war.
Als der erste Teil des Films zu Ende ging und das Programm gewechselt wurde, schaltete ich das Gerät ab. Das Zimmer war still, unten fuhr eine Straßenbahn am Haus vorbei, jemand lachte, aus der Nebenwohnung klang Rockmusik zu mir herüber. In meinem Kopf wollten die Ruzyněgeräusche nicht zur Ruhe kommen. Ich saß im warmenSchein meiner Stehlampe und vermeinte, das kalte Licht der nackten Glühbirne gegenüber der Pritsche, auf der ich gelegen bin, auf meinem Gesicht zu spüren. Die ganze Nacht dieses kalte Licht. Da zerteilte plötzlich wie ein aufblitzender Strahl ein Gedanke den Tumult in meinem Inneren. Allerhand in dem Film war doch schon anders, fiel mir ein, keine verbundenen Augen, Besuche von Angehörigen, Verteidiger, eine Frauen- und eine Männerabteilung ... Na und? fragte ich mich selbst. Entscheidend ist doch das Gefangensein, der Freiheitsentzug, vor allem Unschuldiger, das weißt du doch. Ja, das wußte ich.
Schließlich rappelte ich mich auf, holte aus meinem Schallplattenvorrat die »Kleine Nachtmusik« hervor und ließ mir von Nachbar Mozart die Seele streicheln.
Mit meiner Prager Wohnung, mit meinem Zuhause, in dem ich mich endlich geborgen fühle, ist untrennbar auch ein Morgen verknüpft, an dem mich nach Jahren wieder einmal grausiges Erschrecken heimsuchte.
Am Abend zuvor hatte ich erst spät das Licht gelöscht und schlief fest. Da schrillte das Telefon. Ich konnte nicht gleich wach werden; es schrillte anhaltend. Endlich durchzuckte es mich: Das Telefon! Zu so ungewöhnlicher Stunde! Ich rannte bloßfüßig zum Apparat. Ein Freund rief mir ein paar verrückte Worte zu. Die kühle Nachtluft erbebte. Ich legte mechanisch auf. Hob mechanisch wieder den Hörer, wählte mit zitternder Hand eine Nummer. Rief Freunden ein paar verrückte Worte zu. Dann lief ich auf den Balkon. Der Himmel war schwarz, aber voll roter Augen. Der Himmel dröhnte. Ein Mann rannte durch die leere Straße und schrie etwas. Hinter den Fenstern der schlafenden Häuser ging jäh das Licht an. Der Mann schrie: Wacht auf, Leute, sie besetzen uns! Es waren die frühen Morgenstunden des 21. August 1968. Das Telefon klingelte. Ich sagte: Ja, ja, ich weiß schon. Als ich auf den Balkon zurückkehrte, wurde der Himmel allmählich blasser. Riesige schwarze Vögel mit roten Augen zogen noch immer bedrohlich krachend über den Himmel.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch heute dieses Bild.
Kurz vor sechs Uhr früh trat ich an jenem Morgen auf die Straße. Fast jeder Mensch hatte ein Transistorgerät im Arm, am Ohr. Man wartete noch auf die Straßenbahn, aber die kam nicht mehr. Ruhe, flehte eine vertraute Stimme im Transistorgerät, Freunde, bewahrt um jeden Preis Ruhe. Ich hielt ein Auto an. Der Mann
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