Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
am Steuer öffnete bereitwillig die Wagentür. Als wir losfuhren, sagte er tonlos: Wir sind ein kleines Land. Auf dem Klárov-Platz blieb er stehen, konnte nicht weiterfahren. Auf dem Rasen zwischen der alten Trauerweide und den Sträuchern mit den korallenroten Beeren stand in dieser frühen Stunde ein Monument. Zumindest hatte ich das, was da vor meinen Augen aufgepflanzt war, den metallenen Koloß und die reglose Gestalt im langen Mantel und mit einer Maschinenpistole vor der Brust, bislang in unseren Städten und auf unseren Plätzen nur als Monument gesehen. Ein Soldat der Befreiungsarmee. Aber jetzt? Dieser hier war doch lebendig und ...
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie wieder, diese reglose Gestalt.
Dann vergingen einige Tage oder tausend Jahre. Jemand sagte damals von den Pragern, sie gingen an dem bedrohlichsten Kriegsgerät wie an Bäumen vorbei. Wie an Bäumen, mag sein. Wenn die Luft von kurzen Stößen flimmerte, hoben sie die Köpfe, setzten ihren Weg fort oder begaben sich ruhig in den Schutz des nächsten Hauses. Viele Prager Häuser zeigten seither jahrelang kleine runde Einschußwunden.
Auf dem Altstädter Ring hatte jemand dem steinernen Magister Jan Hus inmitten des eingebrochenen Rüstungsarsenals barmherzig die Augen verbunden. Beim Grabmal des Unbekannten Soldaten standen viele Gläser mit frischen Blumen. Jemand wies mit der Hand auf den Torso des Altstädter Rathauses und sagte: Vor dreiundzwanzig Jahren zerschossen. Im Krieg und vom Feind. Irgendwo in der Nähe grollte es in der Luft. Am Gittertor zum AltenJüdischen Friedhof war ein graues Pappschild befestigt mit der Aufschrift: Sie schweigen. Sie wissen das Ihre.
In der Straße, in der ich bis heute wohne, waren die Bordsteine wie von gigantischen Drachenzähnen zerklüftet. Dort waren die Panzer der »Bruderarmeen« durchgekommen. Über den Haustoren und an den Straßenecken gab es tagelang blinde Stellen. Die Hausnummern und Straßenschilder fehlten. Die Eindringlinge sollten ihren Weg nicht finden. Irgendwie hatte ich das Gefühl, der Schmerz, der wie ein Stein in mir lag, habe auch die Schienenstränge der Straßenbahn verbogen und vielleicht auch die fürchterlichen braunroten Flecken verursacht, die selbst mehrfache Regenschauer nicht von den Pflastersteinen spülten. Wie konnte all das bloß geschehen?
Als ich am ersten Tag der Niederwalzung des Prager Frühlings am Abend nach Hause kam, war an unserer Wohnungstür ein neues Namensschild festgemacht. Dubček stand darauf in dicken schwarzen Lettern. Ich blickte mich um, sah an der Tür bei meinen Nachbarn denselben Namen. Ein junges Mädchen hatte in unserem Haus von unten bis oben an allen Wohnungen diese Namensänderung vorgenommen. Niemand hatte dagegen protestiert, obwohl die Wohnungsinhaber sehr unterschiedlicher Anschauung waren. Aber in jenen Tagen war das überfallene Volk einmütig.
Es sind recht verschiedenartige Erlebnisse, die sich mit mir in meinen Prager vier Wänden angesiedelt haben und manchmal eindringlicher, manchmal eher flüchtig auf mich einwirken. Zu ihnen zählt auch die Abendstunde, da ich mit meinem Mann gespannt und atemlos auf dem Bildschirm die ersten Menschen über die holprige Oberfläche des Mondes halb schweben, halb stapfen sah. Plötzlich sagte Balk: »Schau mal schnell aus dem Fenster.« Ich blickte hin, und hinter der Glasscheibe stand auf dem dunklen Nachthimmel über den Häusern von Prag mild glänzend der runde goldgelbe Mond.
»Dort wandern in diesem Augenblick zwei Menschen«,mein Mann flüsterte in seiner Erregtheit, »und wir sitzen gemütlich zu Hause und sehen ihnen dabei zu.«
Diese Mondwanderung im Rahmen meiner Prager Wohnung in loser Nachbarschaft mit der einstigen Residenz von Wolfgang Amadeus Mozart hat in mir auf einmal einen frühen Jugendtraum wiedererweckt. Der war freilich, wie das bei jungen Leuten natürlich ist, nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft zugewandt. Als es noch völlig phantastisch und verrückt schien, hatte ich den immer wieder aufkommenden Wunsch, eines Tages mögen Besucher von einem anderen Planeten auf unserer Erde landen, und ich könnte sie sehen, mich am Ende sogar mit ihnen verständigen. Ich malte mir das wie ein lebendig gewordenes Märchen aus, ohne eine Spur von Angst, diese fremdartigen Lebewesen von anderswo könnten uns Menschen ein Leid antun.
Inzwischen erwägen Wissenschaftler durchaus sachlich die Möglichkeit einer annähernden Verwirklichung meiner kindlichen
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