Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Jugendfreund, der Dachau überlebt hat und nach dem Krieg tschechoslowakischer Kulturattaché in Mexiko wurde, auf der Gesandtschaft, wo ich als Emigrantin gearbeitet habe.
Begegnungen vor der Bücherwand mit meinen tschechischen Landsleuten könnte ich noch lange fortsetzen, wobei die neuzeitlichen und neuzeitlichsten hier eigentlich fehlen, weil ich sie fast alle in London bei Tochter und Schwiegersohn unterbringe. Dort stehen die Hrabal und Vaculík, Klíma und Kohout, Topol und Holubová, und wie sie alle heißen.
Eines meiner Regale ist polyglott. Hier reihen sich französische Bücher neben amerikanischen, englischen und –
seltener – spanischen. Von da lächelt mich auch das schöne Gesicht der Simone Signoret auf dem Einband ihrer ehrlichen und aufschlußreichen Autobiographie an. Zudem gibt es bei mir eine Abteilung meiner »Spanier«, die umfaßt Werke zum spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 und wird von einem Bändchen »Traum und Lüge Francos« mit Graphiken von Pablo Picasso eingeleitet.
Mit deutschen Büchern bei mir hat es eine besondere Bewandtnis. Da stehen Kisch, Kafka, Weiskopf, Rudolf Fuchs, Max Brod bis hin zu meinem langjährigen Freund und Zeitgenossen Eduard Goldstücker und anderen lieben Pragern neben- und übereinander. Sie bilden aber nur eine Insel im Meer der »Emigranten« und meiner »Mexikaner«, die bemerkenswert schreibfreudig waren und somit auch recht zahlreich vertreten sind. Da strahlt mich »Das wirkliche Blau« der Anna Seghers an, ergreift mich jedesmal von neuem Kischs Andacht unter den jüdischen Indios in seinen »Entdeckungen in Mexiko«, zieht mich Bodo Uhses »Träumerei auf der Alameda« in ihren Bann. Die kurzsichtige Anna hat mit ihren ständig leicht zugekniffenen Augen vielleicht am meisten von uns allen von der magischen Schönheit Mexikos erfaßt. Mit dem Rasenden Reporter aus Prag war das anders. Die Menschen, ihre Arbeit, ihr mühsamer und dabei so bunt schillernder Alltag, das war es doch, Egonek, dem du vor allem nachspüren wolltest. Doch mit der Zeit hat dich das Wüten im zivilisierten Europa immer mehr bestürzt. Dein Großvater hat noch auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Prag seine Ruhe gefunden. Du hast deinem Schmerz über den gewaltsamen Tod von zwei deiner Brüder in den Vernichtungslagern der Nazis unter deinen indianischen Glaubensgenossen am Rande des Dschungels freien Lauf gelassen.
Wenn ich vor meinen Büchern stehe, kommt all das beinahe greifbar auf mich zu. Hole ich dann den einen oder anderen Band aus der gedrängten Reihe hervor, so gerate ich oft in eine ganz besondere Stimmung. Da summt es mit einemmal um mich. Dann sind sie, Tod und Leben zumTrotz, auch wieder alle bei mir, meine Freunde aus Mexiko, mit ihren großen Hoffnungen und einstigen Vorhaben, auch mit der stillen Angst: Werden wir überhaupt je zurückkehren können und endlich wieder zu Hause sein? Das gelang ihnen nach der Überwindung verschiedenster Schwierigkeiten und Hindernisse. Aber ihre Hoffnungen und Vorhaben? Der Freude der Heimkehr folgte viel Bitterkeit und Enttäuschung. Wenn Bücher schreien könnten ...
Neben, über und unter diesen Schriften steht, liegt und drängt sich die »Literatur von heute«, die durchaus nicht nur von heute ist, aber in diesen Jahren und in dieser Zeit zu mir kommt.
Wie viele Plagen und glückliche Augenblicke, wie viele Sehnsüchte, erreichte und unerreichte Ziele, wie viele Wagnisse, Überraschungen, Erfolge und Niederlagen enthalten die berühmt gewordenen oder auch längst in Vergessenheit geratenen Bände in meinem Wohnzimmer. Und auf wie viele Fragen bleiben sie mir für immer ihre Antwort schuldig.
Unter den tschechischen Büchern aus jüngster Zeit befindet sich auch ein autobiographischer Roman von Eva Kantůrková, »Das Haus der traurigen Frauen«. Sie berichtet darin über ihre Haftzeit im Prager Ruzyně-Gefängnis während der sogenannten Normalisierungsperiode in den siebziger Jahren. Das Buch wurde für das Fernsehen bearbeitet. Und so saß ich eines Abends auf der Couch in meiner behaglichen Wohnstube und blickte wie gebannt auf den flimmernden Bildschirm. Denn ungefähr zwei Jahrzehnte früher, in den schlimmen fünfziger Jahren, war ich Gefangene in Ruzyně. Aber jetzt, in diesem Fernsehfilm, sah ich die berüchtigte Strafanstalt zum erstenmal. Obwohl ich dort mehr als ein Jahr verbringen mußte, habe ich niemals den Korridor vor meiner Zelle gesehen, kannte die verschiedenen Gittertore nur dem Klang nach:
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