Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
habe sie nie wiedergesehen.
Mein Hausengel
Ich habe einen Hausengel. Ein Schutzengel ist etwas anderes, der ist das gütige Wesen in wallendem Gewand, das ein kleines Geschwisterpaar über einen schmalen Steg hoch über einem wilden Sturzbach sicher ans andere Ufer geleitet. Mein Hausengel würde anders vorgehen. Der würde mich dazu ermuntern, einen gewagten Schritt erst einmal selbst zu versuchen, den unsichtbaren Stier an den Hörnern zu fassen, der Gefahr nicht auszuweichen. Er ähnelt auch nicht den lieblichen Gestalten von Botticellis Bildern oder den pausbäckigen Engelchen mit lockigen Köpfchen auf Glückwunschkarten und in Bilderbüchern. Mein Hausengel zeigt sich übrigens eher selten, aber er ist da, wenn er merkt, daß er gebraucht wird. Fast immer ist er in solchen Augenblicken spürbar zugegen. Schlimm wird es, wenn ihm das von irgendeiner einfältigen Übermacht verweigert wird. Auch das hat es schon gegeben.
Es ist wohl kein Zufall, daß mir in diesem Zusammenhang immer wieder eine kleine Begebenheit in den Sinn kommt, die, so unbedeutend sie war, unverlöschlich in meinem Gedächtnis haftenblieb und sich bei verschiedenen Gelegenheiten gern in Erinnerung bringt.
Vor vielen Jahren, als man im böhmischen Karlsbad noch orthodoxen jüdischen Kurgästen, vornehmlich aus Polen, begegnen konnte, fiel mir eines Tages auf einem der Parkwege, wo in noch früheren Jahren Johann Wolfgang Goethe, Karl Marx, Zaren, Kaiser und Sultane mit einem Trunk aus den Heilquellen ihre Gesundheit stärkten, ein Junge in einem streng schwarzen Mäntelchen auf, der bewegungslos dastand und gespannt vor sich auf den mit Kies bestreuten Weg blickte. Es war ein milder Herbsttag, ringsumglühten die Berghänge in bunter Septemberpracht, auf dem blaßblauen Himmel jagten einander Wolkenballons. Vor den klobig beschuhten Füßen des Jungen tanzten Sonnenkringel über den Sand, wurden von eiligen Schatten überdeckt, kamen aufstrahlend erneut zum Vorschein. Der Knabe hob den Blick nicht, wiegte seinen Kopf mit dem steifen schwarzen Hut, unter dem zwei kurze Schläfenlocken hervorlugten, sacht von einer Seite zur anderen und murmelte verblüfft:
»Nie gesehen im Leben, einmal licht, einmal dunkel.«
Nie gesehen? Einmal licht, einmal dunkel. Aber das kennen wir doch alle, solche Augenblicke gibt es in jedem Leben. Die einen möchte man festhalten, die anderen tunlichst schnell vergessen. Ich weiß nicht, weiß zum Glück nicht, ob der kleine Junge, der damals in Karlsbad erstaunt die Bewegtheit der Natur wahrnahm, jemals groß geworden ist. Ich weiß nicht, ob ihm das vergönnt war oder ob in späteren Jahren ein lückenlos dunkler Tag für ihn angebrochen ist, an dem ihm kein Engel beistand. Kein Schutzengel und auch kein Hausengel.
Letztere hat es damals allem Anschein nach noch gar nicht gegeben. Ein Hausengel wird einem nämlich nicht von einer himmlischen Obrigkeit zugeteilt, den muß man aus eigener Kraft mitschaffen. Sie darf einem allerdings nicht gewaltsam geraubt werden, damit man durchhalten kann, wenn es im Leben so kommt: Einmal licht, einmal dunkel.
Es ist noch gar nicht so lange her, daß mir eines Tages ganz unverhofft, ungewollt und richtig vergnügt bewußt wurde, daß ich solch einen Hausengel habe. Ich kann ihn weder sehen noch hören, ich merke ihn nur: Jetzt ist er da! Etwa an einem Morgen, an dem die Welt wie vernagelt zu sein scheint, hinter einer Wand mit vielen garstigen Nägeln. Auch der anbrechende Tag erweist sich als nicht gerade vielversprechend. Und da entzündet sich plötzlich tief im Innern des zögernden Menschen ein Fünkchen. Springt in den Kopf über, lockert das verworrene Gedankenknäuel,bahnt erst zaghaft, dann immer beherzter einem Entschluß den Weg. Dabei ist dann schon der Hausengel im Spiel. Unsichtbar, unfaßbar, jedoch nicht zu überhören: Tu etwas, flüstert er einem ein, warte nicht länger, wage den ersten Schritt.
Manchmal kann es dabei um ganz banale Dinge gehen. Etwa um die Unlust, ein lästiges, möglicherweise sogar unangenehmes Telefongespräch zu erledigen. Los, drängt der Hausengel dann, mach schon, bring es hinter dich. Und wenn man tut, was er empfiehlt, wenn dann die ganze Sache gar nicht so schlimm war, möchte man ihm gern danken. Aber wo steckt er denn? Zwischen den Pflanzen auf dem vollbesetzten Blumentischchen? An der Wand hinter dem Rahmen von Mirós farbenfreudiger Phantasie oder gar zwischen dem Stoß unerledigter Korrespondenz auf dem
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