Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Utopie. Was sie nicht wissen, ist, daß ich mich jetzt in meinen reifen Jahren manchmal, wenn es hier auf Erden allzu wüst zugeht, wenn sich Menschen Untaten zuschulden kommen lassen, die bislang unvorstellbar waren und mit unserem Verstand nicht zu begreifen sind, daß ich in solchen Stunden erneut hoffe, von irgendwo könnten Lebewesen auftauchen, die klüger und wissender und also besser sind, als es unsere Menschengattung fertigbrachte.
In Prag kann man noch immer mit offenen Augen träumen.
Seit vielen Jahren wohne ich nun schon allein in der Wohnung in der Nähe von Mozarts Bertramka und gegenüber dem kleinen Klamovka-Park, in dem Egon Erwin Kisch das damalige Tanzlokal von Dienstmädchen und Soldaten frequentierte und – wie denn auch nicht – mit Lust, Phantasie und Kenntnis darüber berichtete. Ein Bierlokal gibt es dort weiterhin. Jetzt sind seine Gäste vornehmlich junge Leute, die neben einigen bierseligen Košířer Stammgästen auch den Sportplatz vor dem Gebäude benützen.Die älteren Herrschaften aus den umliegenden Straßen wandeln in regelmäßigen Stunden mit ihren vierbeinigen Hausgenossen, Hunden und Hündchen edler und augenfällig unedler Rasse an den Rasenflächen entlang, bleiben wiederholt stehen, besprechen die jeweils aktuelle politische Lage, wüßten, wenn man sie nur befragen wollte, für alle Probleme die richtige Lösung.
Es ist mir schon mehrmals passiert, daß ich, um schnell einmal ein bißchen Luft zu schnappen, gerade zu solch einer Stunde durch die Klamovka gelaufen bin. Die Blicke, mit denen ich dabei traktiert wurde, waren keineswegs sehr freundlich oder entgegenkommend. Rennt da eine wie verrückt an uns vorbei, macht unsere Lieblinge nervös und hat selbst keinen Hund dabei! Ein Benehmen haben die Menschen von heute ...
All das, die Klamovka und die Nachbarschaft mit Wolfgang Amadeus Mozart, die lärmende Straße unter meinen Fenstern und der Blick über die Dächer hinweg auf die wechselnden Farbschattierungen naher und ferner Baumkronen, die der Großstadtverunreinigung trotzig standhalten, das Wissen um die Nähe der Burg auf dem Hradschin und der Altstadt mit dem Alten Jüdischen Friedhof und der kurzen, mir so vertrauten Melantrichgasse – all das ist mein wirkliches Zuhause. Das ändert nichts an meiner selbstverständlichen Verbundenheit mit der großen Welt und den Menschen, die überall leben. Ich hatte und habe immer noch das Glück, andere Länder, andere Städte und ihre Bürger kennenzulernen, und genieße die Freude gegenseitigen Verständnisses mit ihnen. An verschiedenen Orten unseres Erdballs kann ich mich wohlfühlen und habe das auch wiederholt ausprobiert. Aber zu Hause, das weiß ich verläßlich, richtig zu Hause bin ich in Prag.
Wenn ich jetzt neben dir hocken würde, Virginia, um dir das alles zu erzählen, würdest du mir zuhören, mir glauben und versuchen, mich zu verstehen, oder würdest du gelangweilt, sogar angewidert den Kopf wegwenden? Aber eskönnte doch auch geschehen, daß du mir zuhörst, daß du staunst über diese Begebenheiten vom anderen Ufer des Lebens. Vielleicht würde ein Fünkchen in dir aufglühen, Virginia, Unruhe, Neugierde, Sehnsucht nach bisher Unbekanntem, was weiß ich. Vielleicht gar die erste zaghafte Willensbewegung, das trostlose Herumsitzen auf dem Treppenabsatz vor der Royal Festival Hall nicht weiter als unabänderlich hinzunehmen, sich nach einer Änderung umzusehen.
Mit solch einer unwahrscheinlichen Vorstellung machte ich mich an einem regennassen, windigen Londoner Morgen entschlossen auf den Weg. Heute werde ich sie ansprechen, meine Virginia, vielleicht wird es mir gelingen, sie zu einer Tasse Tee in der Festival-Cafeteria einzuladen, bei diesem Wetter auch für mich eine verlockende Aussicht. Der Mann, der mir auf der Waterloo-Brücke die Obdachlosenzeitschrift »Issue« verkauft hat, sagte ja auch, man müsse diesen Menschen oft einen ersten Anstoß geben, bei ihm selbst habe das so funktioniert. Die meisten von ihnen könnten irgendwie untergebracht und halbwegs versorgt werden, behauptete er, falls sie es allerdings selbst so wünschten. Gerade das wollte ich heute mit Virginia versuchen.
Es nieselte, und von der Themse blies ein kalter Wind. A cup of tea, freute ich mich, ein heißer Tee, das ist heute das richtige. Ich beschleunigte meinen Schritt, rannte ein bißchen und erreichte atemlos den feuchten Treppenabsatz. Virginia war nicht da. Auch nicht am nächsten und übernächsten Tag. Ich
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