Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
länglichen Balkon vor unserem Küchenfenster – in Prag wäre von einer »Pawlatsche« die Rede – baumelte an jenem Tag wie fast an allen anderen Kinderwäsche zum Trocknen über dem Hof. Als ich sie holen kam, machte ich eine gräßliche Entdeckung: die Jäckchen, die Höschen und Söckchen waren blutrot gefärbt. In der Wohnung unserer montenegrinischen Nachbarn in der dritten Etage war über unseren Köpfen ein Schlachtfest im Gang.
Jugoslawien ist ein schönes Land, seine Bewohner haben sich im Weltkrieg heroisch mit den deutschen und italienischen Okkupanten geschlagen. Sie hatten meine Bewunderung und meinen Respekt. Aber Tag für Tag sehnte ich mich mehr nach meinem Prag.
Als ich dann endlich zurückkehrte in meine Heimatstadt, war es kein freudiges Wiedersehen. War ich hier überhaupt noch zu Hause? Ich mußte mich an Prag erst wieder allmählich herantasten. Die Burg und die Kirchen, die Häuser und die Brücken standen zum Glück noch wie einst und je da, sogar ziemlich unversehrt, ohne klaffend aufgerissene Lücken wie in Belgrad. Das war tröstlich. Aber die Straßen mit den vielen Menschen schienen mir fremd. Mein Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht, keines war mir vertraut.
Die Königsstraße, in der ich aufgewachsen war und die nun Sokolovská hieß, mied ich. Warum sollte ich an meinem Geburtshaus vorbeigehen, das für mich jetzt ein Totenhaus war? Auch die engen Gassen in der einstigen Judenstadt waren ausgestorben. Ihre Bewohner sind nicht im Krieg gefallen, sie wurden zuerst in Kasernen und dann hinter Stacheldrahtverhauen zusammengejagt, mit ihren Frauen und Müttern und auch den ganz kleinen Kindern. Nur die Toten auf dem Alten Jüdischen Friedhof durften dableiben und die schwarzen Raben, die sie bewachen.
Im Bärenhaus in der Melantrichgasse fehlte Egon Erwin Kisch. Als er uns, kurz nach seiner Rückkehr nach Europa, in Belgrad besuchte, sagte er mir, als wir uns trennten:
»Es ist nicht leicht, von jemandem Abschied zu nehmen, wenn man nicht weiß, ob man ihn je wiedersieht, was?«
»Egonek«, protestierte ich erschrocken, »was redest du da?«
»Die Wahrheit«, bemerkte er, umarmte mich, strich mir zärtlich über das ganze Gesicht und ging.
Zwei Jahre später, ich lebte noch in Jugoslawien, war er tot.
Wer jetzt in meiner Mansarde in der Melantrichgasse Nr. 7 wohnte, wollte ich gar nicht wissen.
Zu Hause in Prag?
Doch, doch. Aber ehe ich hier zur Ruhe kam, ehe wir einander wieder verstanden, die Stadt meiner Kindheit und suchenden Jahre und ich nach der bewegten Wanderung durch das Exil, wurde ich abermals gezwungen, wiederholt mein Quartier zu wechseln.
Du meinst, Virginia, ein Dach über dem Kopf ist entscheidend, und mit der Stadt, die einem Unterschlupf gewährt, muß man eben zurechtkommen. Gegenseitige Vertrautheit? Wenn man erst einmal ein paar Nächte auf der Straße geschlafen hat, versagt man sich derartige Feinheiten.
Als wir in Paris in unserem Haus der tschechoslowakischen Kultur lebten, erklärte einmal der Maler Antonín Pelc nach einer Nacht, die wir im abri, dem Luftschutzkeller unter dem Jardin du Luxembourg, verbracht hatten, beim Frühstück: »Wenn ich nach Prag zurückkäme und der Hradschin wäre nicht mehr da, kehrte ich sofort wieder um.«
Nun, das ist uns erspart geblieben. Die Burg hieß die Heimkehrer willkommen und auch alle Brücken und zahlreichen Kirchen. Ich bin dem Schicksal dankbar, uns diese verläßlichen Anhaltspunkte bewahrt zu haben. Daß ich eines Tages auch in meiner Heimatstadt vorübergehend fremd und ausgestoßen sein könnte, habe ich zum Glück nicht geahnt, nicht ahnen können. Als es dann geschah unddie schwärzeste Wolke endlich wieder zögernd von meinem Horizont abzog, mußte ich Prag vorerst für geraume Zeit entbehren. Auch das ging eines Tages vorüber.
Der Zufall wollte es, daß ich meine endgültige Prager Wohnung am linken Ufer der Moldau erhielt, im lauten Industrieviertel Smíchov-Košíře, zu meiner Freude gegenüber einem kleinen Park, der Klamovka heißt und einst der große Garten eines Schlößchens der Grafen Clam-Gallas war. Auf unserer Seite des Flusses liegt die Kleinseite und die Insel Kampa. Ganz in der Nähe meiner Wohnung befindet sich noch ein Schlößchen, eigentlich eine Residenz mit dem wohlklingenden Namen Bertramka, so benannt nach ihrem ursprünglichen Besitzer, einem Herrn Bertram. In dieser ansprechenden Kombination von Villa und kleinem Palais lebte im 18. Jahrhundert der Musiker Franz
Weitere Kostenlose Bücher