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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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sauste er los, als hinge sein Leben davon ab. »Brunie, komm sofort hierher!«, rief sie dann in gespieltem Zorn und zwinkerte uns dabei fröhlich zu. »In diesen Zeiten braucht man einen starken Charakter. Wenigstens den hat er«, sagte sie einmal.
    Aber am Nachmittag dachte ich nur noch an Jakov. Ob er wie gestern schon zu Hause wäre, wenn ich am Abend käme?

    Als ich läutete, öffnete die Oma und sagte, dass schon alle beim Abendessen saßen.
    Â»Wieso kommst du eigentlich immer zu spät?«, fuhr mich Herr Granaat an, noch bevor ich etwas zur Begrüßung sagen konnte. Ich war sicher, dass ich nicht später als am Vorabend gekommen war, und sagte so höflich wie möglich: »Aber ich bin nicht zu spät. Ich kann es bei dem weiten Weg nicht eher schaffen.«
    Â»Welchen weiten Weg?«, schnauzte er weiter. »Du bist doch noch jung. Oder trödelst du vielleicht noch im Zentrum herum?«
    Ich wusste nichts mehr zu sagen und setzte mich schweigend auf den letzten leeren Stuhl. Frau Granaat schöpfte mir Kartoffeln und eine dunkle Soße auf den Teller. Dabei tropfte etwas von der Soße auf die Hand des Babys, das sofort zu schreien begann.
    Â»Du bist so ungeschickt!«, mäkelte Herr Granaat nun auch an seiner Frau herum. Ich sah, wie Jakov böse zu ihm hinschaute. Aber er sagte nichts und schaufelte nur sein Essen verbissen in sich hinein. Endlich war alles vorbei und wir konnten aufstehen. Ich lief hinauf in unser Zimmer und hoffte, dass Klara sich wieder mit den Filmzeitschriften beschäftigen würde. Tatsächlich blieb sie noch unten bei den anderen. Ich wartete eine Viertelstunde und hörte dann endlich Schritte auf der knarrenden Holztreppe. Noch bevor ich die Tür öffnen konnte, wurde ein kleiner Brief durch den Spalt zum Fußboden durchgeschoben. Aufgeregt sprang ich auf und faltete das weiße Papier auseinander, ohne die Tür zu öffnen. In einer ordentlichen Handschrift stand darauf in deutsch geschrieben:

    Liebe Cilly!
    Ich fühle mich beschämt, weil ich dir nicht beispringen konnte, als der Granaat wieder so gemein war. Glaube mir, dass mein Herz vor Wut fast zersprungen wäre, als er über dich herzog wie ein Lehrer über die jüngste Schülerin. Ich hätte ihn am liebsten k.o. geschlagen und dich dann auf meinen Armen aus dem Zimmer getragen. Das war erstens mein innigster Wunsch und zweitens wäre es sehr romantisch. Dann hätte ich dich in meine Arme genommen und deine herrlichen Lippen geküsst. Hättest du das schlimm gefunden? Vergib mir, wenn du kannst, denn ich habe nicht getan, was ich hätte tun sollen. Ach, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lieb ich dich habe. Also tu mir bitte einen Gefallen und antworte mir auf dem leeren Raum unten und stecke mir den Brief in die Innentasche meines Wintermantels. Schlaf süß, meine Blume, träume von meiner Liebe und von meiner ewigen Sehnsucht nach dir. Antworte mir noch heute Abend. Dein Jakov. 16
    Â 
    Ich weiß nicht mehr, wie oft ich den Brief gelesen habe. Ich vergaß alles um mich herum und las immer wieder seine Worte an mich. Es war mir lange unmöglich, etwas »auf dem leeren Raum unten« zu notieren. Erst als Klara im Bett lag, huschte ich noch mal zur Toilette, schaltete dort das Licht an und schrieb ihm zurück:
    Â 
    Lieber Jakov! Du brauchst mich nicht um Vergebung zu bitten. Wir haben uns beide dieses Leben hier nicht ausgesucht. Aber bitte sprich morgen Abend mit mir. Ich sehne mich auch nach dir. Deine Cilly .

    Dann schlich ich über den Flur bis zur Garderobe, wo sein Mantel hing und steckte den Brief ganz tief in eine der beiden Innentaschen. In seinem Zimmer brannte kein Licht mehr. Ob er schon schlief - oder noch wach war wie ich?
    Endlich, am nächsten Abend, nach dem gleichen bedrückenden Ritual des mehr oder weniger schweigend eingenommenen Abendessens, klopfte Jakov an meine Zimmertür und wir gingen ohne ein Wort die paar Schritte bis zu der Ecke vor dem Dachboden, wo man von unten nicht mehr gesehen werden konnte. Wieder hatte Jakov seinen Kohleneimer dabei. Diesmal stellte er ihn aber gleich ab und umarmte mich leidenschaftlich. Obwohl alles in mir bebte, war ich die ersten Minuten zu keiner eigenen Handlung fähig. Ich genoss jede Berührung von ihm, aber es war so überwältigend neu und groß. Nicht nur hatte ich niemals zuvor den Körper eines Jungen so nah gespürt.

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