Zu keinem ein Wort
Ãberhaupt waren mir, selbst zwischen Mutter und uns Kindern, von jeher alle Formen von Zärtlichkeit unbekannt geblieben, so sehr ich sie mir sicher unbewusst auch gewünscht hatte. Erst als sein Mund meine Lippen berührte, begann auch ich, ihn festzuhalten. Ganz fest, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was hinterher geschehen würde. Ich wollte nur, dass es niemals aufhörte.
IN DER HÃHLE DES LÃWEN
Von diesem Abend an trafen wir uns regelmäÃig. Wenn Klara dabei war, besuchte er mich in unserem Zimmer und brachte mir die angekündigten Bücher. Das erste Buch, das er mir zum Lesen gab, war Goethes Faust , der mich tief beeindruckte, wenngleich ich nicht alles verstand. Später las er mir etwas aus einem Buch von Friedrich Nietzsche vor, was ich aber ziemlich düster und kompliziert fand. Wenn Klara unten war, gingen wir in unsere Ecke beim Dachboden, um zu knutschen. Zu mehr kam es nie. Aber das war damals schon aufregend genug für mich.
Jakov philosophierte gern und war fest entschlossen, einmal Schrifsteller zu werden. Vorläufig jedoch hatte er vor allem ständig Hunger, denn allmählich wurde es unangenehm, wie geizig Herr Granaat war. Immer öfter mussten wir mit knurrendem Magen ins Bett. Allerdings waren inzwischen auch sämtliche Lebensmittel rationiert. Wie sehr mich Jakov damals liebte, merkte ich, als er mir einmal eines seiner seltenen Schulbrote aufgehoben hatte. Natürlich sagte ich zu ihm: »Aber Jakov, du hast doch selbst Hunger! Das kann ich unmöglich annehmen.« Da entgegnete er nur entrüstet: »Cilly, das
Brot habe ich extra für dich aufgehoben! Wenn du es nicht isst, werfe ich es in die Gracht!« Später konnte ich ihm manchmal Essensreste aus der Crèche in einem Marmeladenglas mitbringen.
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Endlich traf ich auch Jutta wieder. Sie war bei einer sehr netten Familie untergekommen. Als ich ihr von Granaats Verhalten mir und Jakov gegenüber erzählte, bedauerte sie mich. Eines Tages stellte ich Jutta und Jakov einander vor. Jutta mochte ihn und war froh, dass ich so nicht ganz allein dort war.
Inzwischen waren auch Suzy und Rosa wieder zur Arbeit in der Crèche erschienen und natürlich schütteten wir uns wie früher gegenseitig unsere Herzen aus. Suzy war begeistert von meiner Freundschaft mit Jakov: »Du hast doch immer irgendwie Glück im Unglück, Cilly! Mit einem verliebten jungen Dichter unter einem Dach zu wohnen, das ist immerhin auch nicht zu verachten!« Sie selbst wohnte bei der bekannten Schriftstellerin Clara Asscher-Pinkhof, die mit Frau Vromen befreundet war und mehrere Kinder aufgenommen hatte.
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Beinah täglich schrieben Jakov und ich uns jetzt Briefe, die ich alle bis heute aufgehoben habe. Am 23. Februar 1943 schrieb er mir:
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Meine Blume,
gestern habe ich mit dir gesprochen, so ehrlich wie möglich habe ich dir alles gesagt. Ich will, dass du mich verstehst. Ich will, dass du mich immer lieben sollst, denn ich liebe mit meiner ganzen Seele und mit meinem
ganzen Körper deine Seele und deinen Körper. Doch ich warne dich vor mir, denn meine Taten sind unberechenbar. Ich bin nämlich verrückt, vollkommen verrückt. Wenn du mich trotzdem nicht nur verstehen, sondern auch lieben kannst, dann finde ich deine Liebe sehr tief und herrlich... Die ganze Welt mit ihrem weiten Leben fühle ich in mir... Ich leg mich zu dir hin und das sei mein Glück. Dein Jakov.
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Klara war die Erste in der Niersstraat, die wusste, was sich zwischen mir und Jakov abspielte. Ich bin sicher, dass auch die Granaats etwas bemerkt haben. Aber zumindest davon lieà sich Herr Granaat nichts anmerken.
Die Directrice hatte ab und zu gesehen, dass ich morgens hungrig bei der Arbeit erschienen war, und gefragt, ob es in der Niersstraat nichts zu essen gebe. Wenig später bot sie mir an, im Nebenhaus der Crèche eine kleine Kammer zu beziehen. Sie hatte es organisiert, dass dort einige Mädchen in der Ausbildung unterkommen und ansonsten in der Crèche mitessen konnten. Noch am gleichen Abend packte ich meine wenigen Sachen und zog am nächsten Morgen um. Ich hatte fürs Erste genug vom Familienleben. Die Directrice erlaubte sogar, dass ich Jakov dort tagsüber treffen durfte. Obwohl er beinah jeden Tag nach der Schule zu Besuch kam, schrieb er am 22. März 1943 über das Leben in der Niersstraat:
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Dass ich dich so schrecklich vermissen würde, konnte
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