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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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lachen. Endlich begann sich die Spannung zu lösen. »Wie hat dich Sam eigentlich gefunden?«, fragte ich sie.
    Â»Sam ist besser als Sherlock Holmes und Doktor Watson zusammen«, antwortete Jutta. »Da waren Leute vom Jüdischen Rat, die sagten zu mir, ich solle nicht in den Zug einsteigen. Aber ich wollte mich doch von meinen Freundinnen verabschieden. Ich hörte nicht auf sie und lief ganz schnell zu dem Waggon, wo die andern und auch die alte Juffrouw Frank still und traurig sa ßen. Ich verabschiedete mich von jeder einzeln, auch von Juffrouw Frank. Einige freuten sich sogar mit mir und riefen: ›Jutta, du bist frei!‹ Dann erst kletterte ich wieder aus dem Zug und ging zurück zum Jüdischen Rat. Und da nahm mich auf einmal Sam bei der Hand und hob mich kurz darauf ins Auto. Er sagte, ich dürfe keinen Ton sagen und mich nicht bewegen. Dann warf er die ganzen alten Kleider über mich. Und deshalb ist mein Bein eingeschlafen...« 14 Juttas Augen glänzten. Ob sie den Ernst der Lage wirklich verstanden hatte? Alles war so schnell für sie gegangen. Was für ein Tag!

    Draußen war es inzwischen richtig dunkel geworden. Mittlerweile hatte ich auch eine Idee, wo Jutta schlafen könnte. Ich fragte Netty, ob Jutta an meiner Stelle vorläufig bei ihr wohnen könne, weil ich voraussichtlich bei einer Familie in Amsterdam-Süd unterkäme. Netty stimmte sofort zu. Jutta war inzwischen so müde, dass ihr alles recht war. Bevor ich weiter grübeln konnte, erreichte mich über eine gemeinsame Bekannte die Nachricht, dass Lena und Rosa mitgenommen worden waren, Suzy aber vor dem Transport geflohen war. In allerletzter Sekunde sei sie über eine Leiter zum Nachbarhaus entkommen und habe sich dort stundenlang versteckt. Nun halte sie sich irgendwo in Amsterdam auf. Wenn ich sie jetzt nur hätte treffen können! Aber erst mal musste ich dankbar sein, dass Jutta bei mir war und es noch Hoffnung auf ein Wiedersehen mit einer Freundin gab, egal, wie lange es noch dauern würde.
    Was ich niemandem sagte, war, dass ich trotz der tröstlichen Nachricht über Suzy doch zutiefst unsicher über mein zukünftiges Quartier war. Seit ich klein war, hatte ich in keiner Familie mehr gelebt. Wie ging das überhaupt? Würde ich wieder alles falsch machen? Und falls es keine gläubigen Juden waren, wie sollte ich dann koscher essen? Hatte ich überhaupt das Recht, um etwas zu bitten? Ein paar Kolleginnen in der Crèche schienen meine Unsicherheit zu spüren. Jedenfalls sagte eine von ihnen nach Feierabend zu mir, als Jutta und Netty schon eine Weile weg waren und ich den Aufbruch nicht weiter hinausschieben konnte: »Cilly, wir bringen dich hin. Dann brauchst du nicht allein den
langen Weg bis Amsterdam-Süd zu gehen.« Ich war sehr erleichtert. Die Directrice hatte mir die Anschrift auf einem Zettel notiert: Familie Jaap Granaat, Niersstraat 1.
    Â»Die Niersstraat kenne ich!«, rief Lilly, eine andere Schwesternschülerin, die nicht viel älter war als ich. »Das ist ganz in der Nähe vom Merwedeplein.« 15
    Â 
    Es war ein weiter Weg durch die kalte, dunkle Februarnacht vom Zentrum bis nach Amsterdam-Süd. Wir sprachen nicht viel. Jede von uns trug den Stern, und als an einer Stelle das Mondlicht auf uns fiel, sah es einen Moment so aus, als würden nur unsere Sterne noch das matte Licht reflektieren und einsam durch die Nacht tanzen. Nach beinah einer Stunde hatten wir unser Ziel erreicht. Der Name ›Granaat‹ war trotz der Dunkelheit neben dem Klingelknopf zu erkennen. Als ich draufdrückte, hörten wir ein schwaches Läuten in einem der oberen Stockwerke. Einen Moment später sprang die Tür auf, deren Schnappschloss durch eine Schnur von oben geöffnet worden war. Vorsichtig lugte ich durch den Spalt und sah eine steile Treppe nach oben führen. Auf dem Treppenabsatz stand ein Junge in meinem Alter und schaute ebenso neugierig herunter. Das Nächste, was ich sah, war ein Foto des rauschebärtigen Theodor Herzl, des Begründers des Zionismus, das hinter dem Jungen im Treppenhaus hing. Ich atmete auf. Es war also ein jüdisch-zionistisches Haus, das heißt, die Leute, die hier wohnten, träumten wahrscheinlich ebenfalls von der Auswanderung nach Palästina.
    Ich drehte mich zu Lilly und den anderen um und
sagte: »Alles in Ordnung! Da oben hängt ein Foto von Herzl! Danke, dass ihr trotz der

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