Zu seinen Füßen Cordoba: Historischer Roman (German Edition)
fragte er, (die Mädchen dürfen sich ja bis zu ihrem neunten Lebensjahr ebenso frei bewegen wie die Knaben, sodass er nicht gegen die gute Sitte verstieß, als er die Kleine ansprach), was das zu bedeuten habe, ob jemand bei ihnen gestorben sei.
»O nein«, antwortete die Kleine, »meine Mutter hat wieder eine Tochter geboren.«
Mein merkte es ihrer Stimme an, dass auch sie schon das als ein Unglück empfand, und Welid wunderte sich darüber keineswegs. Denn wozu sind Mädchen gut? Man hat Mühe, Sorge und Plage mit ihrer Aufzucht, und wenn man sie verheiratet, bringt der Kaufpreis das kaum ein, was man ihnen als Ausstattung mitgeben muss.
Nach und nach verstummte das Geschrei. Die Schwägerinnen und Nachbarinnen der jungen Frau verließen das Haus. Welid hörte das am Trippeln ihrer Schritte, ihnen Blicke nachzuwerfen, hätte sich nicht geschickt. Dann wurde es still. Das Kind hatte sich verzogen, der weite Hof war menschenleer und von trostloser Öde.
Plötzlich hörte Welid Gesang. Ganz leise zwar und sehr eintönig, doch die Melodie war deutlich zu erkennen: ein Wiegenlied. Nein, nicht ein Wiegenlied, sondern das Wiegenlied, das seine Mutter gesungen hatte, als Marjam in ihrem Arm lag.
Es übermannte ihn mit solcher Gewalt, dass er mitsingen musste. Er öffnete die Lippen, aber der Ton, der aus seiner Kehle kam, ließ ihn betroffen verstummen. Das war kein Singen, das war ein Krächzen: Kein Zweifel, er hatte seine schöne Stimme eingebüßt.
Dieses Erlebnis verband ihn noch mehr mit den Menschen des Hirtenstammes. Hier war er nicht das, was er in jeder fremden Stadt gewesen wäre: Ein Sänger ohne Stimme, hier war er ein Zurückverpflanzter, und wenn auch nur wie ein kleiner Steckling in einen großen Olivenhain.
Es vergingen einige Jahre. Welid hatte sich an das Leben gewöhnt, das geregelt war von Morgen und Abend, Vollmond und Neumond, den Sonnenwenden und den Tagundnachtgleichen. Das Tagewerk der Frauen spulte sich ab wie ein Garngespinst: Handmühlen drehen, Oliven stampfen, Feigen dörren, Spindeln tanzen lassen, Webschiffchen durch die Fäden schießen, Mahlzeiten bereiten, Wäsche waschen und im Winter Tag für Tag das Trinkwasser für Mensch und Tier aus dem Tal den Berg hinaufschleppen, denn Brunnen gab es in der Siedlung nicht.
Und doch hatten es die Frauen gut - ihr Leben war ständig behütet. Sie mussten ihr Haus oder ihr Zelt nur verlassen, um das Notwendigste draußen zu besorgen, und waren im Ring der Mauern und Zeltwände vor edlen Angriffen, ja selbst vor zudringlichen Blicken geschützt, während die Männer ein Leben voll von Gefahren zu bestehen hatten. Der alte Garub betrachtete Welid so sehr als einen, der zum Stamm gehörte, dass er mit dem Gedanken umging, ihm seine Lieblingsenkelin zur Frau zu geben. Damit wollte er zweierlei gewinnen: Das Kind im Hause behalten und den Gast für immer an den Stamm binden. War Welid nicht nützlich? Geschickt und stark zugleich, klug ohne überheblich, verträglich ohne feige zu sein? Nur ein Gedanke hielt den Alten noch davon zurück: Woher sollte der Unbemittelte den Brautpreis nehmen? Er gehörte zu keiner Familie, war also bar jeden Besitzes. Und ein Kind seines Sohnes ohne Brautgabe fortzuschenken, hätte dem Ansehen des Marabuts allzu sehr geschadet.
Garub war noch nicht mit sich ins Reine gekommen, als ein Unglück geschah: Die Schneeschmelze im Gebirge setzte ganz plötzlich mit wolkenbruchartigen Regenfällen ein, sodass sich der Bach wie ein Wasserfall ins Tal stürzte und alles auf seinem Weg mit sich fortriss. Zwar saßen die Menschen noch in ihren vor Überschwemmungen sicheren Hütten, doch einige junge Burschen, die im Tale das Vieh weideten, waren bei ihrem Bemühen, die Tiere zu retten, mit einem Großteil der Herden den Sturzfluten zum Opfer gefallen. Aber, was noch schmerzlicher war: Die meisten Fruchtbäume hatte das Wasser entwurzelt und weggeschwemmt. Das alles bedeutete Not und Hunger für Jahre.
Eine große Unruhe erfasste die Menschen des Tales. Es musste etwas geschehen. Vielleicht konnte man einen Raubzug unternehmen, überraschend in eine Stadt eindringen und mit Beute zurückkehren? Oder in die Ebenen hinuntersteigen, wo die großen Viehherden weideten, sie nachts überfallen und die Tiere auf den nur den Bergbewohnern bekannten Pfaden in Sicherheit bringen? Das waren allerdings Unternehmungen, für die die Kraft eines Stammes allein nicht ausreichte, man musste sich mit den Marabuts der Nachbarsiedlungen
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