Zu seinen Füßen Cordoba: Historischer Roman (German Edition)
Hütten standen, für jeden verheirateten Mann, dessen Frauen und Kinder eine. So blieben die Brüder und Vettern beisammen, bis der Hofplatz zu eng wurde; eine Familie umfasste manchmal an die hundert Köpfe.
Am größten war die des Alten. Er hieß Garub und war der Marabut, der Heilige des Stammes, leitete die Gottesdienste, bestimmte die Zeiten des Auszuges und der Rückkehr und genoss das höchste Ansehen. Wer auch hätte gewagt, sich ihm zu widersetzen? Seine Zaubersprüche schützten gegen die Dschinnen der Berge, seine Amulette gegen den bösen Blick. Er lenkte aus der Ferne die Pfeile der Jäger, dass sie den Löwen - oder auch den Mann aus dem feindlichen Stamm — ins Herz trafen. Er lockte das Wild in die Fallen, bewahrte Mensch und Tier vor den Gefahren der Abgründe und Lawinen. Wehe dem, dem er sagte: »Ich kann dich nicht mehr schützen«, der war schon so gut wie tot. Ob ihn ein Felsbrocken erschlug, ein wilder Eber ihm den Leib aufschlitzte, der Säbel eines Feindes ihm den Schädel spaltete - auf keinen Fall würde mehr als ein Monat vergehen, bis ihn sein Schicksal ereilte.
Im Winter sammelte der Marabut die Knaben um sich und lehrte sie, was ein Mann wissen muss. Von Allah erzählte er ihnen und von Iblis, dem Teufel, der die Menschen verführt, von den Engeln und von den Dschinnen. Auch von Muhammad sprach er, dem Propheten, den Allah segnen möge bis ans Ende aller Zeiten, der den Gläubigen den Weg zum Paradies zeigte und Fürsprache für die Frommen einlegt am Jüngsten Tag. Aber die »Großen Worte«, die Zauberformeln und heiligen Gebete, die er als Imam seiner Gemeinde vorsprach, lehrte er nur seinen ältesten Sohn. Erblich war das Amt des Marabuts, die Heiligkeit pflanzte sich fort von Geschlecht zu Geschlecht.
Als Welid dem ersten Gottesdienst beiwohnte, den der Alte leitete, hatte er große Mühe, andächtig zu bleiben. Das sollten Koranverse sein? Wahrscheinlich verstand Garub selbst nicht, was die arabischen Worte bedeuteten, die er herunterleierte und dabei so entstellte, dass Welid sie kaum wiedererkannte, und wahrscheinlich versetzte gerade diese Unverständlichkeit die Beter in jene Inbrunst, die das Magische in der menschlichen Brust bewirkt.
Immer, wenn sie sich von ihren Verbeugungen erhoben, fühlte Welid die Augen des Alten auf sich gerichtet, und ihm war, als bedeutete sein Blick: »Hüte dich, zu sagen, dass du mehr weißt, mehr kannst, mehr verstehst als ich.«
Und er hütete sich. Teilte das Leben der andern, ein einfaches, nur auf die Erhaltung des Daseins gerichtetes Leben. War doch dieses Dasein ständig gefährdet: Wenn ein Winter keinen Regen brachte, oder doch nicht genug, versiegten Quellen und Bäche, verdorrten Laub und Gras, trugen die Ölbäume und die Feigenbäume keine Frucht. Und was dann? Kein Handel erreichte das Tal, keine Schiffe brachten Hilfe von weither, kein Kalif, kein Statthalter tat Kornhäuser und Schatzkammern auf - man lebte am Rande der Welt, kümmerte sich um niemanden und niemand kümmerte sich um einen.
O doch, einer war da, der für sie sorgte: Allah. Er ließ die Früchte der Bäume wachsen, sodass sie körbeweise geerntet und verarbeitet werden konnten, die Feigen getrocknet und die Oliven gestampft, dass das öl in die Krüge rann. Er schenkte den Schafen und Kamelen die Wolle, die geschoren und in Tuch verwandelt wurde. Welid stieg mit auf die Feigenbäume, legte Hand an beim Scheren der Tiere, verstand sich bald auf das Austreiben der Herden, das Aufstellen der Zelte, das Handhaben des Bogens (ja, auch darauf, denn vor Feinden war man niemals sicher, und Blutrache mit Geld abzugelten, wäre keinem der Männer auch nur in den Sinn gekommen, obwohl der Koran das ausdrücklich empfahl), er unterschied sich bald in nichts mehr von den anderen Männern seines Alters.
Was war mit ihm geschehen? Vielleicht nichts anderes, als dass er heimgefunden hatte zu den Sitten und zum Leben seiner Ahnen? Denn so wäre sein Leben verlaufen, wenn seine Mutter ihn nicht im Kastell eines andalusischen Edelmannes aufgezogen hätte, sondern im Zelt eines Wanderhirten ihres Stammes.
Nie kam ihm diese Zugehörigkeit zu den Menschen seiner neuen Umgebung deutlicher zu Bewusstsein als an dem Tage, da die Frau von Garubs jüngstem Sohn ein Kind gebar.
Aufmerksam auf dieses Ereignis wurde er durch ein markerschütterndes Klagegeschrei, das durch alle Wände drang. Er ging in den Hof und sah ein kleines Mädchen, das eben aus einer Türe trat. Dieses
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