Zu Staub Und Asche
»Sie war ein so liebenswertes Mädchen.«
Hannah berührte die altersfleckige Hand. Der Ehering hing locker an den knochigen Fingern. Die Ähnlichkeit dieser Frau mit seiner eigenen Mutter hatte Ben Kind damals erschüttert. Noch eine alte Dame, deren Leben von Verlust und Einsamkeit gezeichnet war.
»Das glaube ich Ihnen gern.«
»Sie hätte Besseres verdient, aber sie hatte nicht viel Glück im Leben.«
»Ich wüsste gern mehr über ihre Freunde.«
»Sie war sehr fleißig in der Schule. In ihrer Klasse war ein Mädchen namens Phyllida, das später nach Amerika ging und dort einen Arzt heiratete. Oder war es ein Architekt?«
»Und weiter? Mit wem war sie in den letzten Jahren befreundet?«
Eine Träne rollte über Daphne Friends Wange. »Ich weiß nicht recht. Es ist so lange her, und manchmal bringe ich alles durcheinander.«
»War Bethany manchmal verliebt? Haben Sie ihre Freunde kennengelernt?«
Daphne runzelte die Stirn. »Diese Dinge machte sie mit sich aus. Sie wissen ja, wie junge Leute so sind. Und ich wollte ihr bestimmt nicht nachspionieren.«
»Aber Sie interessierten sich dafür«, soufflierte Hannah.
»Ja, aber das ist doch völlig normal. Als kleines Mädchen hat sie mir wirklich alles erzählt.« Daphne verlor sich in Erinnerungen, bis Hannah sie sanft in Bethanys letzte Jahre zurückholte. »Leider hat sie nie geheiratet. Schade! Ich wäre wirklich gern Großmutter geworden.«
»Gab es denn einen ganz Bestimmten?«
Daphne schüttelte den Kopf. Ihre rosafarbene Kopfhaut schimmerte durch das schüttere Haar.
»Sie hat nie darüber gesprochen.«
Es überraschte Hannah nicht, dass Bethany ihrer Mutter ihr Privatleben vorenthalten hatte. Daphne Friend war eine konservative Frau, die vorehelichen Sex sicher zutiefst missbilligte. Vermutlich hatte Bethany ihr nur das Notwendigste erzählt.
»Was wissen Sie über die Arbeit Ihrer Tochter, Daphne? Bethany schrieb gern, nicht wahr?«
Daphnes Gesicht wurde von einem plötzlichen Lächeln erhellt. Ihre Augen strahlten. Obwohl die ältere Dame kein Gebiss trug, konnte Hannah plötzlich verstehen, warum sich der verstorbene Mr Friend vor Jahrzehnten zu dieser Frau hingezogen gefühlt hatte.
»Oh ja, das tat sie. In Englisch bekam sie immer die besten Noten und hat dieses Fach auch an der Universität studiert. Schon als Kleinkind verkündete sie, dass sie Schriftstellerin werden wolle, wenn sie eines Tages erwachsen wäre. Allerdings habe ich ihr immer zu verstehen gegeben, dass sie zusätzlich einen vernünftigen Job brauche.«
Ein guter Rat, dachte Hannah, falls man sich auf das verlassen konnte, was Nathan Clare gesagt hatte.
»Welche Art Job zum Beispiel?«
»Ich hätte es gut gefunden, wenn sie Lehrerin geworden wäre.« Daphne schweifte in eine Träumerei über die angenehmen Seiten des Lehrberufs ab. »Eine respektable Arbeit, lange Ferien und am Ende eine anständige Pension. Aber Bethany meinte, dazu hätte sie nicht genügend Geduld.«
»Und was machte sie stattdessen?«
Daphne runzelte die Stirn. »Gelegenheitsjobs. Das war natürlich immer noch besser als Arbeitslosenunterstützung, aber sie hätte mehr aus sich machen können. Hinter einem Tresen oder einer Ladentheke zu arbeiten ist doch kein Leben für eine junge Frau mit einem Abschluss in Englisch!«
»Sie hat auch mal in einer Buchhandlung gearbeitet, nicht wahr?«
»Oh, sie hat oft als Verkäuferin gejobbt. Einmal, bei Lakeland, da hat sie einige hübsche Pullis zu Vorzugspreisen bekommen.«
Das Befragen von Menschen mit sprunghafter Erinnerung erforderte eine schier endlose Geduld. Polizeiarbeit hätte Bethany Friend sicher auch nicht gefallen.
»Und die Buchhandlung?«
»Richtig, ich erinnere mich. Dort war es richtig nett.«
»Haben Sie sie an ihrem Arbeitsplatz besucht?«
»Ja, einmal. Der Laden war in einer alten Mühle untergebracht. An warmen Tagen konnte man sich mit einer Tasse Tee und einem Brötchen auf die Terrasse setzen und dem Fluss zuschauen, wie er über das Dingsda rauschte.«
»Das Wehr«, sagte Hannah fast automatisch. Ihr Herz pochte.
»Stimmt, das Wehr.« Daphnes bleiche Wangen wurden plötzlich rosig, als sei ihr etwas eingefallen. »Es tut mir wirklich leid, meine Liebe, aber ich habe Ihren Namen vergessen.«
Nach ihrem Besuch im Pflegeheim spazierte Hannah durch das Dorf. Sie war noch nicht bereit, ins Büro zurückzukehren. Mit einer gewissen Hinterhältigkeit hatte sie Greg Wharf aufgetragen, sich in die Wissenschaft gängiger
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