Zu Staub Und Asche
Totenschein stand - die Wahrheit ist, dass ihr Herz gebrochen war. Sie wollte einfach nicht mehr.«
»Und jetzt möchten Sie an Daphne Friend alles wiedergutmachen?«
»Ja.« Er starrte in sein Bierglas, weil er sich schämte, ihrem Blick zu begegnen. »Ja, ja!«
Und jetzt war Ben tot und das erneute Aufrollen des Falles die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, bevor Daphne Friend starb. Aus diesem Grund war Hannah so entschlossen gewesen, Lauren Self davon zu überzeugen, einem so gut wie aussichtslosen Fall Zeit und Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie schuldete es Ben und Daphne, ihr Bestes zu geben.
Und dann war da noch diese andere Sache.
Was wäre, wenn Bethany tatsächlich bei Marc gearbeitet hätte?
Oder noch schlimmer: Was wäre, wenn er gewusst hätte, was mit der jungen Frau geschehen war, und seinen Mund nur deshalb gehalten hätte, weil er etwas zu verbergen hatte?
Die Pflegerin hieß Kasia. Wie die meisten Hilfskräfte im Altenheim war sie Polin. Eine junge und fröhliche, aber sichtlich überarbeitete Frau. Das Heim befand sich in einem inzwischen immer wieder erweiterten Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ein angebauter Wintergarten ermöglichte den Bewohnern einen wunderbaren Blick auf die Berge, doch niemand beachtete die Aussicht durch die regennassen Scheiben. Ein halbes Dutzend alte Frauen und zwei Männer saßen im Halbkreis. Die meisten schliefen. Zwei ältere Herrschaften verfolgten eine Quizsendung im Fernseher gegenüber dem Fenster. Einige der altersweisen Gesichter hatten sich seit Hannahs letztem Besuch vor Weihnachten verändert, doch das sanfte Schnarchen, das sie beim Betreten des Hauses begrüßte, klang wie eh und je.
»Sie ist wach«, flüsterte Kasia, als hätte Hannah eine Kirche betreten. »Über die Feiertage ging es ihr nicht so gut, aber jetzt scheint sie klar bei Verstand zu sein.«
Daphne Friend saß mit im Schoß gefalteten Händen in einem Rollstuhl. Eine Frauenzeitschrift war ihr aus den Händen geglitten und lag unbeachtet vor ihr auf dem Teppich. Sie war kaum siebzig Jahre alt - kein Alter heutzutage! -, doch Krankheit und Kummer hatten ihr zugesetzt. Ihre pergamentartige Haut roch nach Körperpuder. Reglos betrachtete sie ein gerahmtes Aquarell von Buttermere an der gegenüberliegenden Wand, doch Hannah war sicher, dass es nicht das Bild war, das sie fesselte. Ihr Geist wanderte viele Jahre rückwärts auf der Suche nach den Erinnerungen, die ihr geblieben waren.
»Daphne«, sprach die Pflegerin sie an, »Sie haben Besuch.«
Hannah streckte ihre Hand aus. »Hallo, Daphne! Ich bin Hannah Scarlett. Erinnern Sie sich an mich?«
Daphne Friend hob ihre welke Hand und berührte Hannahs Fingerspitzen. Auf ihren Lippen lag ein vorsichtiges Lächeln. Ein schwacher Funke des Wiedererkennens schien in ihren wässrigen blauen Augen aufzuleuchten. Als Hannah das letzte Mal hier war, hatte eine Schwester ihr erzählt, dass Bethanys Mutter die ersten Anzeichen von Gedächtnisverlust zeige und sich kaum noch konzentrieren könne. Nach einem leichten Schlaganfall im November hatten sich die Symptome verschlechtert, doch Hannah war an einem ihrer guten Tage bei ihr gewesen, und Daphne hatte sehnsüchtig von ihrer toten Tochter erzählt. Nachdem sie miteinander geredet hatten, war Hannah umso entschlossener, die wahren Umstände von Bethanys Tod aufzudecken.
»Sie waren eine Klassenkameradin von Bethany.«
Es hätte schlimmer kommen können - wenn sie zum Beispiel ihr Gespräch völlig vergessen hätte. Oder riet sie etwa nur, wie ein schwerhöriger Mensch, der sich anstrengte, die Worte zu erschließen, die er nicht richtig verstanden hatte? Die Pflegerin fuhr Daphnes Rollstuhl zurück in ihr Zimmer - einen winzigen Raum, der kaum genug Platz für ein Bett, zwei Stühle, eine Kommode und ein kleines Bücherregal bot, in dem zerlesene Catherine Cooksons Seite an Seite mit Romanen von Pat Barker und AS Byatt standen.
»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte Kasia. »Ich habe noch eine Menge zu tun. Wenn Sie mich brauchen, klingeln Sie einfach, okay?«
Hannah setzte sich auf einen Stuhl neben der alten Dame.
»Ich bin Polizistin. Wir bemühen uns herauszufinden, was mit ihrer Tochter geschehen ist. Als ich das letzte Mal bei Ihnen war, habe ich Ihnen versprochen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um den Fall doch noch aufzuklären. Meine Chefin ist jetzt einverstanden; wir können mit der Arbeit anfangen.«
Daphnes Augen füllten sich mit Tränen.
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