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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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plötzlich, mit siebzehn –, half sie ihm bei einigen Dingen, weil sie und ihr Mann das Geld brauchten. Aber sie wurde schwanger, und von den Gerüchen der Ablauger, der Beizen, des Leinöls, der Politur und des Holzrauchs wurde ihr schlecht. Das zumindest sagte sie Roy. Seiner Frau nannte sie den wahren Grund – ihr Mann fand, das sei nicht die richtige Arbeit für eine Frau.
    Und so hat sie jetzt vier Kinder und arbeitet in der Küche eines Altenheims. Das findet ihr Mann offenbar in Ordnung.
    Roys Werkstatt befindet sich in einem Schuppen hinter dem Haus. Sie wird von einem Holzofen beheizt, und die Beschaffung des Brennmaterials für den Ofen hat zu einer weiteren Beschäftigung geführt, die privat, aber nicht geheim ist. Das heißt, jeder weiß davon, aber niemand weiß, wie oft er daran denkt und wie viel es ihm bedeutet.
    Das Holzfällen.
    Er hat einen Lieferwagen mit Allradantrieb, eine Kettensäge und eine Acht-Pfund-Fällaxt. Er verbringt mehr und mehr Zeit im Wald und fabriziert Brennholz. Mehr als er selbst braucht, wie sich herausstellt – also ist er dazu übergegangen, es zu verkaufen. Moderne Häuser haben oft einen Kamin im Wohnzimmer, einen weiteren im Esszimmer und einen Ofen im Hobbyraum. Und in denen soll das ganze Jahr über Feuer brennen – nicht nur, wenn ein Fest gegeben wird oder zu Weihnachten.
    Als er anfing, in den Wald zu gehen, machte sich Lea Sorgen um ihn. Sie hatte Angst, ihm könne dort draußen, wo er ganz allein war, etwas zustoßen, aber auch, dass er sein Geschäft vernachlässige. Sie fürchtete nicht, dass seine handwerklichen Fähigkeiten leiden würden, sondern sein Terminplan. »Du willst doch die Leute nicht enttäuschen«, sagte sie. »Wenn jemand sagt, er möchte etwas dann und dann, hat er einen Grund dafür.«
    Sie hatte die Vorstellung, dass sein Geschäft eine Verpflichtung war – etwas, um Leuten behilflich zu sein. Es war ihr peinlich, als er seine Preise erhöhte – wie ihm übrigens auch –, und so nahm sie die Mühe auf sich, den Leuten zu erklären, was ihn die Materialien heutzutage kosteten.
    Solange sie noch ihre Stellung hatte, war es für ihn nicht schwierig, sich erst in den Wald davonzumachen, nachdem sie zur Arbeit aufgebrochen war, und zurück zu sein, bevor sie nach Hause kam. Sie arbeitete als Sprechstundenhilfe und Buchhalterin bei einem der Zahnärzte in der Stadt. Es war eine gute Beschäftigung für sie, denn sie redete gern mit anderen Menschen, und es war gut für den Zahnarzt, denn sie kam aus einer großen und anhänglichen Familie, die nie daran denken würde, ihre Zähne von irgendjemand anders versorgen zu lassen als von dem Mann, der ihr Arbeitgeber war.
    Diese Verwandten von Lea, die Boles und die Jetters und die Pooles, fanden sich oft in ihrem Haus ein, und wenn nicht, dann suchte sie gerne eines ihrer Häuser auf. Eine Großfamilie, deren Mitglieder das Miteinander keineswegs immer genossen, jedoch dafür sorgten, dass es so oft wie möglich stattfand. Zwanzig oder dreißig von ihnen zwängten sich zu Weihnachten oder Thanksgiving in ein Haus, und auch an normalen Sonntagen brachten sie ein Dutzend zusammen, das fernsah, sich unterhielt, kochte und aß. Roy sieht gerne fern, er unterhält sich gerne und isst gerne, mag aber nicht zwei Dinge davon gleichzeitig tun und ganz bestimmt nicht alle drei. Wenn die Verwandtschaft sich also sein Haus für die sonntägliche Versammlung ausgesucht hatte, machte er es sich zur Gewohnheit, aufzustehen, in den Schuppen zu gehen und ein Feuer aus Eisenbaum- oder Apfelbaumholz zu machen – beides, aber besonders das Apfelholz verströmte einen süßen, tröstlichen Duft. Ganz offen sichtbar, auf dem Bord mit den Beizen und Ölen, hatte er immer eine Flasche Roggenwhisky stehen. Er hatte auch im Haus Roggenwhisky und geizte nicht damit gegenüber Gästen, aber der Schluck, den er sich eingoss, wenn er allein im Schuppen war, schmeckte besser, ebenso wie der Rauch besser roch, wenn niemand da war, um zu sagen: Ach, ist das nicht anheimelnd? Er trank nie, wenn er an Möbeln arbeitete oder in den Wald ging – nur an diesen Sonntagen voller Besucher.
    Dass er sich so verdrückte, sorgte nicht für Ärger. Die Verwandten waren nicht gekränkt – sie hatten nur ein begrenztes Interesse an Leuten wie Roy, die bloß in die Familie eingeheiratet und nicht einmal Kinder dazu beigetragen hatten und ihnen nicht ähnelten. Sie waren groß, ausladend und gesprächig. Er war klein, kompakt und

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