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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Vernas Kopf versuchte, aus dem Wasser aufzutauchen. Ihr Kopf wollte unbedingt auftauchen, wie ein Kloß in der Brühe. Der Rest ihres Körpers machte sinnlose, schwache Abwärtsbewegungen, aber der Kopf wusste, was zu tun war.
    Unsere Hände hätten von dem Gummikopf, der Gummibadekappe abgleiten können, wäre sie nicht durch das erhabene Muster weniger rutschig gewesen. Ich kann mich genau an ihre Farbe erinnern, an dieses fade Hellblau, aber nicht an ihr gesamtes Muster – ein Fisch, eine Nixe, eine Blume –, dessen Kanten sich in meine Handflächen gruben.
    Wir sahen uns weiterhin an, Charlene und ich, statt auf das hinunterzuschauen, was unsere Hände taten. Charlenes Augen waren geweitet und glitzerten freudig, wie meine wahrscheinlich auch. Ich glaube nicht, dass wir das Gefühl hatten, etwas Böses zu tun, und darin triumphierten. Eher, als täten wir genau das, was – zu unserer eigenen Verblüffung – von uns verlangt wurde, als sei das der Gipfel, der absolute Höhepunkt unseres Lebens, unseres Ichbewusstseins.
    Wir waren zu weit gegangen, um noch umzukehren, könnte man sagen. Uns blieb keine Wahl. Aber ich schwöre, dass es diese Wahl für uns gar nicht gab, dass sie uns nicht in den Sinn kam.
    Das Ganze dauerte wahrscheinlich nicht länger als zwei Minuten. Drei? Oder anderthalb?
    Es mutet etwas übertrieben an, zu sagen, dass die bedrückenden Wolken genau in dem Augenblick aufrissen, aber irgendwann – vielleicht, als die Motorboote herankurvten oder als Pauline aufschrie oder als die erste Welle eintraf oder als das Gummiding unter unseren Händen aufhörte, einen eigenen Willen zu haben – brach die Sonne hervor, Eltern tauchten am Strand auf, Rufe erschollen, wir sollten alle mit dem Unfug aufhören und aus dem Wasser kommen. Mit dem Baden war es vorbei. Für diesen Sommer vorbei, für die von uns, die zu weit weg vom See oder von einer öffentlichen Badeanstalt wohnten. Private Swimmingpools gab es nur in Filmillustrierten.
    Wie schon gesagt, lässt mein Gedächtnis mich im Stich, wenn es zum Abschied von Charlene und zum Einsteigen ins Auto meiner Eltern kommt. Weil es ohne Belang war. In dem Alter gehen Dinge zu Ende. Man ist darauf eingestellt, dass sie zu Ende sind.
    Ich bin mir sicher, dass wir nichts so Banales oder Beleidigendes oder Unnötiges sagten wie
Nichts verraten
.
    Ich kann mir vorstellen, dass Besorgnis aufkam, aber nicht so schnell um sich griff, wie sie es ohne konkurrierende Dramen getan hätte. Ein Kind hat eine Sandale verloren, eins der kleinsten Mädchen jammert laut, dass es von den Wellen Sand im Auge hat. Nahezu mit Sicherheit muss ein Kind sich übergeben, von der Aufregung im Wasser oder von der Aufregung der eintreffenden Familien oder von zu raschem Verzehr geschmuggelter Süßigkeiten.
    Und bald, aber nicht sofort, geht in all dem Trubel die Angst um, dass jemand fehlt.
    »Wer?«
    »Eine von den Sonderlingen.«
    »Verflixt. Hab ich’s doch gewusst.«
    Die Betreuerin der Sonderlinge rennt immer noch in ihrem geblümten Badeanzug herum, das Puddingfleisch an ihren dicken Armen und Beinen wabbelt. Ihre Stimme ist verstört und weinerlich.
    Jemand soll im Wald nachsehen, den Weg rauflaufen, ihren Namen rufen.
    »Wie ist denn ihr Name?«
    »Verna.«
    »Warte mal.«
    »Was denn?«
    »Ist da draußen nicht was im Wasser?«
     
    Aber ich glaube, da waren wir schon fort.

Holz
    Roy ist Polsterer und Möbelrestaurator. Er übernimmt es auch, Stühle und Tische zu reparieren, die Sprossen oder ein Bein verloren haben oder sonst wie hinfällig sind. Es gibt nicht mehr viele, die so etwas machen, und er bekommt mehr Aufträge, als er erledigen kann. Er weiß nicht, wie er das ändern soll. Seine Ausrede für seine Weigerung, jemanden einzustellen, der ihm helfen kann, ist, dass die Regierung ihm zu viele bürokratische Hindernisse in den Weg legt, aber der wahre Grund mag sein, dass er gewohnt ist, allein zu arbeiten – was er seit seiner Entlassung aus der Armee tut –, und dass ihm die Vorstellung schwerfällt, ständig jemanden um sich zu haben. Wenn er und seine Frau Lea einen Jungen bekommen hätten, wäre er vielleicht mit Interesse für seine Arbeit herangewachsen und hätte in der Werkstatt mitgearbeitet, sobald er alt genug gewesen wäre. Oder sogar, wenn sie ein Mädchen bekommen hätten. Einmal hatte er daran gedacht, Diane, die Nichte seiner Frau, auszubilden. Als Kind hatte sie herumgelungert und ihm zugeschaut, und nachdem sie geheiratet hatte –

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