Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
schweigsam. Seine Frau ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, und sie mochte Roy so, wie er war, also machte sie ihm weder Vorwürfe noch entschuldigte sie sich für ihn.
Beide hatten das Empfinden, einander irgendwie mehr zu bedeuten, als es bei Ehepaaren mit großer Kinderschar der Fall war.
Im letzten Winter hatte Lea fast ständig an Grippe und Bronchitis gelitten. Sie meinte, sie fange sich alle Erreger ein, die die Leute in die Praxis des Zahnarztes schleppten. Also kündigte sie – sie sagte, es werde ihr ohnehin ein bisschen zu viel und sie wolle mehr Zeit für die Dinge haben, die sie schon immer hatte tun wollen.
Aber Roy fand nie heraus, welche Dinge das waren. Ihre Kräfte hatten eine starke Einbuße erlitten, von der Lea sich nicht mehr erholte. Und das schien eine tiefgreifende Veränderung ihrer Persönlichkeit zu bewirken. Besucher machten sie nervös – ihre Verwandten mehr als alle anderen. Sie fühlte sich zu erschöpft für Gespräche. Sie mochte nicht aus dem Haus gehen. Sie hielt den Haushalt in Ordnung, aber sie ruhte sich zwischen den einzelnen Verrichtungen immer wieder aus, so dass sie für einfache Routinearbeiten den ganzen Tag brauchte. Sie verlor fast ganz das Interesse am Fernsehen, obwohl sie hinschaute, wenn Roy den Apparat einschaltete, und sie verlor ihre dralle, lebenslustige Figur, wurde dünn und formlos. Die Wärme, das Leuchten – was auch immer ihr das nette Aussehen verliehen hatte – waren aus ihrem Gesicht und ihren braunen Augen verschwunden.
Der Arzt verschrieb ihr Tabletten, aber sie vermochte nicht zu sagen, ob sie ihr halfen oder nicht. Eine ihrer Schwestern brachte sie zu jemandem, der Ganzheitsmedizin praktizierte, und die Konsultation kostete dreihundert Dollar. Sie vermochte auch nicht zu sagen, ob ihr das irgendwie half.
Roy vermisst die Frau, an die er gewöhnt war, mit ihren Scherzen und ihrer Energie. Er möchte sie zurückhaben, aber es gibt nichts, was er tun kann, außer Geduld zu haben mit dieser ernsten, teilnahmslosen Frau, die manchmal mit der Hand vor ihrem Gesicht herumwedelt, als störten sie Spinnweben oder als steckte sie in Brombeeren fest. Wenn sie nach ihrem Sehvermögen gefragt wird, behauptet sie jedoch, es sei völlig in Ordnung.
Sie fährt nicht mehr mit ihrem Auto. Sie sagt nichts mehr dazu, dass Roy in den Wald geht.
Möglich, dass sie sich wieder einkriegt, sagt Diane. (Diane ist so ziemlich die einzige Person, die noch ins Haus kommt.) Oder auch nicht.
Das sagte in etwa auch der Arzt, allerdings mit wesentlich behutsameren Worten. Er sagt, die Tabletten, die er ihr verordnet hat, werden sie davor bewahren, zu tief zu sinken. Wie tief ist zu tief, denkt Roy, und wann merkt man es?
Manchmal findet er ein Waldstück, in dem die Leute vom Sägewerk abgeholzt und die Wipfel liegen gelassen haben. Und manchmal findet er eins, in dem die Leute vom Forstamt alle Bäume markiert haben, die ihrer Meinung nach gefällt werden sollen, weil sie krank oder krumm sind oder nicht zu Bauholz taugen. Eisenbaum zum Beispiel taugt nicht zu Bauholz, ebenso wenig Weißdorn oder Hainbuche. Wenn er so ein Waldstück entdeckt, setzt er sich mit dem Farmer oder dem jeweiligen Besitzer in Verbindung, sie handeln miteinander, und wenn sie sich über den Preis einig sind, geht er sich das Holz holen. Viel von all dem geschieht im Spätherbst – jetzt im November oder Anfang Dezember –, denn das ist die Zeit, um Brennholz zu verkaufen, und es ist die beste Zeit, um mit dem Lieferwagen in den Wald zu fahren. Die Farmer haben heutzutage nicht immer einen gut befahrbaren Weg dort hinein, wie sie ihn hatten, als sie das Holz noch selber fällten und herausholten. Oft muss man über die Felder fahren, und das geht nur zu zwei Zeiten im Jahr – bevor das Feld gepflügt ist und nachdem es abgeerntet ist.
Die Zeit nach der Ernte, wenn der Boden fest gefroren ist, eignet sich besser. Und in diesem Herbst ist die Nachfrage nach Holz größer denn je, und Roy ist innerhalb einer Woche zwei oder drei Mal hinausgefahren.
Viele Leute erkennen Bäume an ihren Blättern oder an ihrer Gestalt und Größe, aber beim Gang durch den kahlen, dicht bestandenen Wald erkennt Roy sie an ihrer Rinde. Der Eisenholzbaum mit seinem schweren und zuverlässigen Brennholz hat eine raue braune Borke an seinem mächtigen Stamm, aber seine Äste sind an den Enden glatt und entschieden rötlich. Kirsche ist der schwärzeste Baum im Wald, und seine Rinde ist
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