Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
gekriegt, sich im Wohnzimmer hinzusetzen, wie ich’s Ihnen gezeigt habe. Mama sagt: Beeil dich, ich muss wieder in die Küche. Gleich vorbei, sage ich. Also hab ich ein Foto von ihnen gemacht, und sie sagt: Komm schon, zeig her, wie wir aussehen, und ich sage: Ihr müsst euch ein bisschen gedulden, es dauert nur eine Minute. Und während sie darauf warten, um sich anzuschauen, wie sie aussehen, hole ich meine hübsche kleine Pistole raus und piff-paff-poff erschieße sie alle drei. Dann hab ich noch ein Foto gemacht, bin raus in die Küche, hab was von dem Huhn gegessen und sie nicht mehr angesehen. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Tante Rennie auch da ist, aber Mama sagte, sie hat was in der Kirche zu tun. Ich hätte sie genauso leicht erschossen. Da, schauen Sie. Vorher und nachher.«
Der Kopf des alten Mannes war zur Seite gesunken, der der alten Frau nach hinten. Ihre Gesichter waren fortgeblasen. Die Schwester war nach vorn gefallen, so dass ihr Gesicht nicht zu sehen war, nur die mächtigen Knie unter dem geblümten Stoff und der dunkle Hinterkopf mit der kunstvollen, altmodischen Frisur.
»Ich hätte einfach da sitzen bleiben und mich eine Woche lang gut fühlen können. So entspannt war ich. Aber ich bin nur bis Einbruch der Dunkelheit geblieben. Ich hab mich vergewissert, dass ich sauber bin, und hab das Huhn aufgegessen, ich wusste, ich muss verschwinden. Ich war drauf gefasst, dass Tante Rennie auftaucht, aber ich war nicht mehr in der Stimmung wie vorher, und ich wusste, ich müsste mich aufraffen, um sie kaltzumachen. Mir war einfach nicht mehr danach. Zum einen war mein Magen so voll, es war ein großes Huhn. Ich hatte es ganz aufgegessen, statt mir was einzupacken und mitzunehmen, weil ich Angst hatte, die Hunde würden es riechen und Krach schlagen, wenn ich mich über die Hinterhöfe davonmache, wie ich’s vorhatte. Außerdem dachte ich, mit dem Huhn im Bauch brauch ich eine Woche lang nichts zu essen. Aber schauen Sie, wie hungrig ich war, als ich bei Ihnen angekommen bin.«
Er sah sich in der Küche um. »Sie haben wohl nicht irgendwas zu trinken? Der Tee war scheußlich.«
»Es könnte eine Flasche Wein da sein«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ich trinke nichts mehr …«
»Sind Sie bei den Anonymen Alkoholikern?«
»Nein. Ich vertrage es einfach nicht.«
Sie stand auf und merkte, dass sie weiche Knie hatte. Kein Wunder.
»Ich hab die Telefonleitung gekappt, bevor ich reingekommen bin«, sagte er. »Meine, Sie sollten das wissen.«
Würde er sorgloser und lockerer werden, wenn er etwas trank, oder bösartiger und wütender? Woher sollte sie das wissen? Sie fand den Wein, ohne die Küche verlassen zu müssen. Sie hatte mit Rich jeden Tag ein moderates Quantum Rotwein getrunken, weil das angeblich gut fürs Herz war. Oder schlecht für etwas, das nicht gut fürs Herz war. Vor lauter Angst und Schreck kam sie nicht darauf, was es nun war.
Denn natürlich hatte sie Angst. Die Tatsache, dass sie Krebs hatte, half ihr in diesem Augenblick überhaupt nicht. Die Tatsache, dass sie im Laufe des Jahres sterben würde, vermochte nicht die Tatsache zu verdrängen, dass sie jetzt sterben konnte.
Er sagte: »He, der ist echt gut, kein Schraubverschluss. Haben Sie keinen Korkenzieher?«
Sie ging zu einer Schublade, aber er sprang auf und schob sie beiseite, nicht zu grob.
»M-m, den hol ich. Sie bleiben von der Schublade weg. Oh Mann, lauter gute Sachen da drin.«
Er legte die Messer auf den Sitz seines Stuhls, so dass sie nicht herankam, und benutzte den Korkenzieher. Es entging ihr nicht, was für eine böse Waffe er in seiner Hand sein konnte, aber sie hatte nicht die geringste Chance, sich seiner selbst zu bedienen.
»Ich stehe nur auf, um Gläser zu holen«, sagte sie, aber er sagte nein. »Keine Gläser, haben Sie keine Plastikbecher?«
»Nein.«
»Dann Tassen. Ich passe auf.«
Sie stellte zwei Tassen hin und sagte: »Für mich nur ein bisschen.«
»Für mich auch«, sagte er sachlich. »Ich muss noch fahren.« Aber er füllte seine Tasse bis zum Rand. »Ich will nicht, dass ein Polizist den Kopf ins Auto steckt, um mich zu kontrollieren.«
»Freie Radikale«, sagte sie.
»Was soll das jetzt heißen?«
»Das hat was mit Rotwein zu tun. Entweder er zerstört sie, weil sie schlecht sind, oder er baut sie auf, weil sie gut sind, ich weiß es nicht mehr.«
Sie trank einen Schluck Wein, und anders, als sie erwartet hatte, wurde ihr davon nicht übel. Er trank, immer noch im
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