Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
so kann man davon ausgehen, dass es mit Sicherheit andere Paare gab, die in ein und demselben Haus getrennt voneinander lebten, andere Männer und Frauen, die sich mit der Tatsache abgefunden hatten, dass es Differenzen gab, die für alle Zeit unüberbrückbar blieben, ein Wort oder eine Tat, die unverzeihlich blieben, eine Barriere, die unüberwindlich blieb.
Es folgt, was in solch einer Geschichte kaum überrascht, dass mein Vater zu viel rauchte und trank – auch wenn die meisten seiner Freunde das ebenfalls taten, und zwar unabhängig von ihrer Lebenssituation. Er erlitt einen Schlaganfall, als er noch keine sechzig war, und starb nach mehreren Monaten Bettlägerigkeit. Und es war nicht erstaunlich, dass meine Mutter ihn die ganze Zeit über pflegte, ihn zu Hause behielt, wo er keineswegs sanft und dankbar wurde, sondern sie mit üblen Beschimpfungen traktierte, undeutlich durch sein Missgeschick, aber für sie immer verständlich und für ihn offenbar recht befriedigend.
Auf der Beerdigung sagte eine Frau zu mir: »Deine Mutter ist eine Heilige.« Ich erinnere mich recht gut an das Aussehen der Frau, wenn auch nicht an ihren Namen. Weiße Locken, Rouge auf den Wangen, damenhafte Gesichtszüge. Ein tränenersticktes Flüstern. Ich konnte sie vom ersten Augenblick an nicht leiden und zog ein finsteres Gesicht. Ich war zu der Zeit im zweiten Collegejahr und nicht der Verbindung meines Vaters beigetreten, der mich auch nicht dazu aufgefordert hatte. Ich trieb mich mit Leuten herum, die Schriftsteller oder Schauspieler werden wollten und dazumal Witzbolde, unermüdliche Zeitverschwender, scharfe Sozialkritiker und neu bekennende Atheisten waren. Ich hatte keine Achtung vor Leuten, die sich wie Heilige aufführten. Und um bei der Wahrheit zu bleiben, das strebte meine Mutter auch nicht an. Derart fromme Vorstellungen lagen ihr so fern, dass sie mich bei meinen Besuchen zu Hause nie darum bat, in das Zimmer meines Vaters zu gehen und mich um ein Wort der Versöhnung mit ihm zu bemühen. Und ich bin auch nie hineingegangen. Es gab keinerlei Aussicht auf eine Versöhnung oder einen Segen. Meine Mutter war keine dumme Pute.
Sie hatte sich mir gewidmet – nicht das Wort, das sie oder ich damals gewählt hätten, aber ich denke, es ist das treffende –, bis ich neun Jahre alt war. Dann schickte sie mich fort auf ein Internat. Das hört sich an wie ein Rezept für eine Katastrophe. Das violett-gesichtige Muttersöhnchen wird dem Hohn und den grausamen Übergriffen junger Wilder ausgesetzt. Aber es ging mir da gar nicht so schlecht, und ich weiß bis heute nicht genau, warum. Ich war für mein Alter groß und kräftig, was geholfen haben mag. Ich denke jedoch, dass die Atmosphäre in unserem Haus, dieses Klima aus Übellaunigkeit, seelischer Grausamkeit und Abscheu – auch wenn es nur von einem oft unsichtbaren Vater ausging – jeden anderen Ort erträglich machte, sogar vorteilhaft, wenn auch nicht in positivem, sondern in negativem Sinne. Jedenfalls unternahm niemand eine Anstrengung, nett zu mir zu sein. Ich bekam einen Namen weg – Blaukopf. Aber fast jeder hatte einen Schimpfnamen. Ein Junge mit besonders üblen Schweißfüßen, denen auch die tägliche Dusche nichts anhaben konnte, fügte sich fröhlich in den Namen Stinker. Ich kam zurecht. Ich schrieb meiner Mutter drollige Briefe, und sie antwortete auf ähnliche Art, schlug über Ereignisse in der Stadt und der Kirche einen leicht satirischen Ton an – ich erinnere mich an ihre Beschreibung eines Streits über die richtige Art, Sandwiches für einen Damentee zu schneiden – und schaffte es sogar, komisch, aber nicht verbittert von meinem Vater zu berichten, den sie mit Ihro Gnaden titulierte.
Ich habe in meinem Bericht bisher meinen Vater zum Scheusal gemacht und meine Mutter zur Retterin und Beschützerin, und ich glaube, das ist richtig so. Aber sie sind nicht die einzigen Personen in meiner Geschichte, und die Atmosphäre im Haus war nicht die einzige, die ich kannte. (Ich spreche jetzt von der Zeit, noch bevor ich aufs Internat kam.) Was ich inzwischen für das Große Drama meines Lebens erachte, hatte sich bereits außerhalb des Hauses ereignet.
Das Große Drama. Es macht mich verlegen, das hingeschrieben zu haben. Ich frage mich, ob es nach billiger Satire oder nach Larmoyanz klingt. Aber dann denke ich: Ist es nicht ganz natürlich für mich, mein Leben so zu sehen, so darüber zu reden, wenn man in Betracht zieht, womit ich meinen
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