Zuckerguss (German Edition)
zusehends. Ist das wirklich noch der gleiche Olli, der früher mit mir Kirschen geklaut hat? Ist er bloß erwachsen geworden und hat sich verändert, oder bin ich in meiner Entwicklung stehen geblieben? Hat mein Vater am Ende recht? Bin ich zu naiv und träumerisch veranlagt, dass ich mein Leben nicht geregelt bekomme? Der Gedanke macht mir Angst.
»Weißt du, worüber ich mir Gedanken mache?«, versuche ich meine Bedenken herunterzuspielen. »Wer bist du, und was hast du mit meinem Freund gemacht?«
Olli lacht laut auf. »Ach, Miriam …« Er kichert in sich hinein.
Was ist so lustig? Und was soll dieser Ton? »Ach, Miriam …«, äffe ich ihn innerlich nach.
»Du wolltest immer in die große weite Welt hinaus.«
»Was hat das damit zu tun?«, fauche ich ihn an. Ja, ich wollte weg aus Wismar. Die Welt sehen. Abenteuer erleben. Davon träumte ich als Kind. Leider klopfen die aufregenden Geschichten selten an die eigene Haustür. Und zu meinem Leidwesen hatte das Schicksal andere Pläne mit mir. Ich bin zwar aus Wismar rausgekommen, aber um welchen Preis? Zumal man Hannover nicht gerade als die große weite Welt bezeichnen kann – drei Autostunden von Wismar entfernt.
Olli sieht mich aufmerksam an. »Hast du dich je in Wismar wohl gefühlt?«
»Früher mal«, gebe ich widerstrebend zu, »bevor sich mein Vater in den Kopf gesetzt hat, dass ich auf Teufel komm raus Bäckerin werden soll.« Natürlich gab es auch danach Momente, wo ich Wismar vollkommen okay fand. Aber die meiste Zeit war es mir zu eng. Zu klein. Zu beschaulich. Ich habe es gehasst und wollte einfach nur raus.
»Siehst du! Ich habe mich hier immer wohl gefühlt und wollte nie woandershin. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich diese kleine Stadt während meines Studiums vermisst habe. Klar, es ist kein Vergleich mit Berlin, Hamburg oder Leipzig. An manchen Tagen sehne ich mich tatsächlich nach dem Trubel der Großstadt. Dann gehe ich an den Strand und weiß wieder, weswegen ich nirgendwo anders leben möchte.«
Super!
Schlagartig fühle ich mich noch deprimierter.
»Du hast leicht reden. Im Gegensatz zu mir wusstest du bereits in der Grundschule, was du aus deinem Leben machen wolltest. Zwanzig Jahre später hast du es geschafft. Du bist angekommen. Und glücklich.«
Ich kann weder das eine noch das andere von mir behaupten. Meine berufliche Zukunft verläuft planlos. Ich habe keine Ahnung, welchen beruflichen Weg ich nach meinem Abschluss einschlagen will. Privat sieht es nicht besser aus. Während in meinem Bekanntenkreis die Hochzeitsglocken läuten und die Wochenenden auf dem Spielplatz verbracht werden, wohne ich mit einem sexsüchtigen Kerl namens Moritz zusammen, mit dem ich eine platonische Beziehung führe. Das muss mir ja zwangsläufig aufs Gemüt schlagen.
Olli stupst mit dem Finger gegen meine Nase. »Das kannst du auch haben. Du musst es nur wollen«, entgegnet er, als ob es nichts Einfacheres auf der Welt gäbe.
»Sehr witzig«, erwidere ich voller Hohn. »Mein Leben ist ein einziges Chaos. Mein Vater wirft mir vor, dass ich mein Leben nicht auf die Reihe kriege. Das Ziel meiner Mutter besteht darin, aus mir eine feine Dame zu machen. Und meine Schwester glaubt, dass ich mit Stephan morgen auf der Party auftauche. Als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, nimmt alle Welt an, dass ich mein Studium längst abgeschlossen habe. Nenn mir einen Grund, annähernd glücklich zu sein!«
»Bei dir scheint einiges passiert zu sein.«
»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«
»Na ja, die Situation mit deinem Vater war immer angespannt. Deine Mutter kenne ich nur als höchst liebenswürdige Person. Was mich viel mehr interessiert, wer ist Stephan?«
Gaaah!
»Mein Ex-Freund«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es war klar, dass Olli sich die peinlichste Geschichte zuallererst herauspickt.
»Und der steckt wo?«
»In Hannover. Hochzeitskutsche bestellen. Babysachen kaufen. Whatever! «
Auf Ollis Gesicht breitet sich ein dickes Fragezeichen aus. Ich ergebe mich in mein Schicksal und kläre ihn über diese ganze verfahrene Kiste mit Stephan, Moritz und der megapeinlichen Telefonaktion auf.
»Du hast wirklich ein Talent dafür, dich in Schwierigkeiten zu bringen«, sagt Olli nach einer Weile und schüttelt belustigt den Kopf. Ich scheine besser als jede Unterhaltungssendung im Fernsehen zu sein.
»Sag mir lieber, wo ich bis morgen einen Stephan herzaubere«, erinnere ich ihn an den Ernst der Lage. »An It’s raining
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