Zuckerguss und Liebeslieder Roman
rostige Einzelteile eines abgewrackten Traktors, zwischen denen Hühner herumpicken. Von der Tür blättert die Farbe ab. Ich hämmere vernehmlich dagegen, doch es rührt sich nichts. Behutsam versuche ich sie aufzudrücken, sie ist unverschlossen, knarzt aber und sperrt sich, weil dahinter Tonnen von Post, Gerichtsbescheiden und Wurfsendungen auf dem Boden liegen. Vorsichtig taste ich mich weiter ins Dunkel, folge dem Schnarchen, das aus dem Wohnzimmer zu mir dringt. Wyatt liegt längelang auf dem Sofa, eine Gitarre und diverse leere Flaschen Jack Daniel’s neben sich auf dem Boden. Auf dem Plattenteller dreht sich leise klickend eine LP. Ich gehe hin und lüfte die Nadel. Es ist Moonshine , das hört er sich jeden Abend an, wenn er versucht, die Erinnerungen an bessere Zeiten im Alkohol zu ertränken. Ich rüttle ihn wach. Erst da sehe ich die Schrotflinte neben ihm. »Hier in den USA schießen wir Eindringlinge über den Haufen«, knurrt er. Kawumm! Ein weißes Licht, ich schwebe hoch über der Erde, halte Ausschau und sehe Teresa an meinem Grab stehen. »Und, wer ist jetzt wohl Daddys Liebling, Alice?«
Ein schwerer italienischer Akzent reißt mich aus meinen mörderisch-tragischen Country-Star-Tagträumereien. »Sie fertig mit die Tasse?«
Einer der beiden bejahrten Bediensteten von Costa Coffee zeigt auf meinen Pappbecher. Stephen hat seinen auf dem Weg nach draußen natürlich mitgenommen. Ich nicke.
Als er nach dem Becher greift, sehe ich sein Namensschild: Tony.
»Sie sehen traurig aus, Lady«, sagt er, während er den Tisch abwischt.
Ach was soll’s. »Ich habe gerade mit meinem Freund
Schluss gemacht, mit meinem Job sieht’s auch übel aus, und in acht Stunden soll ich ein Flugzeug besteigen und habe Mordsschiss vorm Fliegen.« Meine Stimme bricht, und ich muss mir blitzfix die Nase putzen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Tony scheint das nicht im Mindesten aus der Fassung zu bringen. Er sieht mich so verständnisvoll an, als bekäme er dergleichen tagtäglich zu hören. »Warum Sie machen Schluss mit Freund?«
»Weil er ein gehirnamputierter Geizkragen ist, dem mehr am Geld liegt als an mir.«
Tony sieht mich entsetzt an. »Freund ist Idiot! Hat nicht verdient schöne Dame.«
Da hat er recht. Tony ist zwar schon gut und gern sechzig, aber so ein Kompliment habe ich gerade bitter nötig.
Er lehnt sich an seinen Putzwagen. »Wenn ich kenne ganz besondere Dame wie Sie, ich sie nie lassen außer Gesicht.« Er kommt in Schwung. »Vielleicht das alles nur zu gute Zweck. Vielleicht Sie lernen kennen nette Mann in Flugzeug. Gute Mann, der sich kümmert um Sie.« Tony seufzt tief auf. »Hörren Sie auf mich. Vergessen Sie Ihre Freund.« Er klopft sich auf die Brustregion. »Iste klein mit Geld, iste klein mit sein Herz.«
»Sie meinen also, ich sollte fliegen?«
»Flugzeug nicht stürzen ab«, sagt er zuversichtlich. »Und wenne doch, dann soll sein.«
Er sieht, was ich für ein Gesicht mache. »Warten Sie. Ich bringe Ihnen Pannacotta. Nix kosten! Iste nur bisschen alt.« Sein Arm beschreibt eine schwungvolle Geste. »Dann Sie sehen sich um in die Läden, kaufen sich was Schönes.«
Er marschiert hinter den Tresen. »Bringe ich Ihnen auch Kaffee«, ruft er. »Auf die Haus.«
Ich lehne mich zurück. Wie oft sind es doch völlig Fremde, deren Mitgefühl uns am meisten zu Herzen geht. Ich bin zutiefst gerührt. Dann wandern meine Gedanken, wie immer, wenn ich mich mutterseelenallein fühle, zu Mum, die so viel vor uns verborgen gehalten und so viel nur angedeutet hat, was mir erst Jahre später klar wurde. »Geh hinaus in die Welt, Alice. Solange du noch jung bist.« Jetzt begreife ich, was sie damals von mir wollte: das zu tun, wozu sie nicht gekommen ist - und nicht etwa abzuwarten, in der Annahme, es bliebe ja noch jede Menge Zeit, weil das für den einen oder anderen eben nicht zutrifft.
Ich verspüre den unbändigen Wunsch, sie jetzt hier bei mir zu haben, schließe die Augen und versuche mir ihr Gesicht vorzustellen.
Nach ein paar Sekunden ist sie mir wieder gegenwärtig. Doch was ich gleich darauf höre, bringt mich total aus dem Gleichgewicht: Ein paar Takte Musik aus dem Lautsprechersystem des Flughafens. Ein Song, den jeder kennt, dessen letzte Refrainzeile jeder mitgrölt. Der bei jeder Hochzeit, jeder Geburtstagsdisco und jeder Veranstaltung gespielt wird, bei der der DJ sonst nur noch mit »Dancing Queen« alle aufs Parkett bringen kann.
Take a little trip in the moonlit dew
Down
Weitere Kostenlose Bücher