Zuckerguss und Liebeslieder Roman
Ach, jetzt verstehe ich. Ich habe durchblicken lassen, dass Graham seinen Job verloren hat, und nun macht dieser Kerl mit seinen bäuerlichen Ehrbegriffen sich Sorgen um jemanden, den er gar nicht kennt. Wie edel. Vermutlich kennt er nichts weiter als das Leben auf dieser Farm in Barnsley. Vor meinem inneren Auge sehe ich eine winzige Dorfschule
mit einem einzigen Klassenzimmer für sämtliche Kinder, wie in Unsere kleine Farm .
»Graham ist gesund und munter«, sage ich. »Er hat seinen Job aufgegeben, aber er ist nicht traurig deswegen. Nein, er ist glücklich. Er wird mehr mit seinen Enkelkindern spielen können.« Mir fällt ein, dass er Tiere mag. »Vielleicht werden sie sich einen kleinen Welpen zulegen. Sie könnten ihn Max nennen. Die Kinder werden Max kraulen.«
Ich verstumme, aber es erfolgt keine Antwort. Bisher hat er mir nicht das Geringste zu essen oder zu trinken angeboten - mit der Sozialkompetenz ist es hier in Ohio offensichtlich nicht allzu weit her. Meine Hände prickeln, und ich mache mir allmählich ein bisschen Sorgen wegen Frostbeulen. Ich schiebe die Hände in die Manteltaschen und überlege, was ich noch sagen soll.
»Ich heiße Alice«, sage ich. »Und wie heißen Sie?«
Er antwortet nicht sofort, so als hätte er Mühe, sich auf seinen eigenen Namen zu besinnen.
»Dork.«
Wow. »Dork« ist bei uns Briten eine ziemlich beleidigende Bezeichnung für einen nicht allzu intelligenten Menschen. Zum Glück weiß er das nicht. Gottlob muss ich mir darauf keine Antwort ausdenken, denn der Labrador (vermutlich vom Piepsen der Mikrowelle aufgescheucht) hat sich zu uns in die Küche gesellt und stupst Dork mit der Schnauze an. Ist dieses Heischen um Aufmerksamkeit das typische Verhalten eines vernachlässigten Vierbeiners? Ich schätze, es ist lange her, seit Wyatt das arme Geschöpf zu einem ordentlichen Spaziergang mitgenommen oder mit ihm Ball gespielt hat. Ich beschließe augenblicklich, dem Hund mit viel Liebe wieder zu emotionalem Wohlbefinden zu verhelfen.
Von oben immer noch kein Laut. Kein gutes Zeichen. Eigentlich könnte ich in der Wartezeit auch versuchen, an ein bisschen Hintergrundinformationen zu kommen. »Schläft er ihn aus?«
Er kehrt mir immer noch den Rücken zu. »Schläft was aus?«
Ich darf mich nicht scheuen, die unangenehme Wahrheit auszusprechen. »Den Alkoholrausch«, verkünde ich lauthals.
(Die Broschüre für Freunde und Familienangehörige von Alkoholikern legt ihren Adressaten nahe, das Wort Alkohol so häufig wie möglich auszusprechen. »Wenn der Alkoholiker in Ihrem unmittelbaren Umfeld sagt, er würde »einen zischen« oder »sich ein Gläschen genehmigen«, dann korrigieren Sie ihn freundlich, aber bestimmt. »Nein, du nimmst ein alkoholisches Getränk zu dir.«)
»Trinkt er?«, fragt mein Gegenüber mit ausdrucksloser Stimme.
Ich darf nicht zu viel von ihm erwarten. »Hören Sie, Dork, ich weiß, dass Sie Wyatt wohl schützen wollen. Aber ich bin hier, um zu helfen«, sage ich energisch. »Das Problem zu verleugnen, verschlimmert nur die Situation.«
»Die Situation«, sagt er verständnislos.
»Sein Alkoholproblem«, zische ich. »Ganz zu schweigen von den versteckten, zusätzlichen Abhängigkeiten, die vermutlich ebenfalls bestehen.« Ich habe die Broschüre zweimal von vorn bis hinten gelesen und kenne mich entsprechend aus. »Zigaretten, Glücksspiel, Essen …«
»Essen«, unterbricht er mich. »Sie meinen, warme Apfel-Hafergrütze könnte ein Problem sein?« Er beäugt die Schale misstrauisch.
Allmählich geht mir die Geduld aus. »Warme Apfel-Hafergrütze ist ganz sicher kein Problem.«
»Woher wollen Sie das wissen? Was ist, wenn er sie unbedingt haben muss?« Er greift sich einen Löffel aus der Schublade. »Was ist, wenn er sie heimlich isst? Was ist, wenn er täglich einen Sechserpack Hafergrütze verputzt?«
Warum ist Dork auf einmal so redegewandt? Woher weiß er, wo der Löffel zu finden ist? Wer genau ist eigentlich dieser Dork?
»Ganz unter uns«, sagt er und dreht sich um. »Ich habe gehört, dass er hoffnungslos süchtig nach Frühstücksflocken ist.«
Und da, im gleißenden Halogenlicht der Küche, geht mir endlich auf, wen ich vor mir habe.
12. KAPITEL
Wyatt steht da, den Blick auf mich geheftet. Ich sitze immer noch auf einem seiner Küchenstühle. Sosehr ich es möchte, ich kann nicht aufspringen und schreiend aus der Küche rennen, weil meine Beine nicht mitspielen würden. Ich habe einen trockenen Mund, feuerrote
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