Zuckerguss und Liebeslieder Roman
meine kritische innere Stimme mit einem Seufzer.
Nach zehn Minuten habe ich mich ausgeheult, putze mir die Nase und stelle die Seelenmusik ab, die mich noch deprimierter stimmt als ohnehin schon. Wenn ich hier weiter herumsitze, werde ich eingeschneit und tatsächlich an Unterkühlung sterben. Meine Überlebensinstinkte erwachen. Ich beschließe, dass ich definitiv nicht sterben will, und verfalle in leichte Panik. Hole tief Luft, sage meinem kritischen inneren Kind, dass es sich verziehen soll, und tue das, was mir bei extremen Angstzuständen am besten hilft. Ich stelle mir die folgende Frage: Was würde Dr. Vaizey in einer solchen Situation tun?
Ja, okay, ich war ein bisschen verknallt in ihn, aber nicht
so peinlich wie Zara, die ihm einmal einen Schal gestrickt hat. »Ich kann Ihr Geschenk nicht annehmen, Zara«, sagte er sehr bestimmt. »Das wäre unpassend.« Mein Herzschlag setzte kurz aus, als ich das hörte. Er war so selbstsicher und beherrscht. Zara schniefte und verstaute den Schal wieder in ihrer uralten Tragetasche von Harrod’s - als ob sie ihn mit dem Behältnis beeindrucken könnte!
Dr. Vaizey trägt braune Budapester, grobe marineblaue Cordhosen und cremefarbene karierte Hemden von Viyella. Bestimmt war er auf einer Privatschule. Er ist das, was Dad als sehr wortgewandt bezeichnen würde. Wir wussten absolut nichts von ihm; da zeigt sich, was für ein Profi er ist. Ich beschloss, dass er eine Wohnung in Chelsea hat, abends meistens liest oder Opernmusik hört und die Hoffnung schon fast aufgegeben hat, jemals die Richtige zu finden - eine Frau, die ihn sowohl in Gefühlsdingen als auch bei der Büroarbeit unterstützt. Jennifer meint, er sei höchstwahrscheinlich mit einer umwerfenden Krankenschwester verheiratet, so der blonde, vollbusige Typ. Aber das stimmt ganz sicher nicht.
Jedenfalls, Dr. Vaizey hat uns immer gesagt, wir sollten das tun, was ansteht, und uns nicht darüber den Kopf zerbrechen, welche Folgen unsere Entscheidungen in den nächsten zwanzig Jahren haben könnten. Ich schließe die Augen und konzentriere mich, bis ich Dr. Vaizeys Stimme höre. Ja, da ist sie. »Ergreifen Sie die Initiative: Tun Sie etwas, um Ihren Job zu behalten. Fahren Sie dann an einen sicheren Ort und begeben Sie sich in ärztliche Behandlung.« Wider besseres Wissen lasse ich die Augen geschlossen. »In meinen Augen haben Sie sich immer von den anderen Patienten unterschieden, Alice«, fährt Dr. Vaizey fort. »Sie waren etwas Besonderes. Und da Sie nun nicht mehr in meiner
Gruppe sind, darf ich mir erlauben, Sie zum Abendessen bei mir zu Hause in Chelsea einzuladen. Da ich nicht nur ein erfolgreicher Arzt mit einer florierenden Privatpraxis, sondern auch der Begünstigte eines Familientrusts bin, ist die Wohnung recht großzügig und geschmackvoll eingerichtet, einschließlich einer neuen, maßgefertigten Küche. Ich bin schon viel zu lange allein.«
Widerwillig öffne ich die Augen und versetze mich in die Gegenwart zurück. Wenn ich mich dem Tagtraum von romantischen Abendessen überlasse, sitze ich noch übermorgen hier. Mit Dr. Vaizey an meiner Seite fühle ich mich wie neu. Ich hole meinen BlackBerry heraus und befolge Brents Anweisungen, mich im Falle irgendwelcher Probleme an Carmichael Music in New York zu wenden. Ich brauche zehn Minuten, um sorgsam eine grammatikalisch korrekte E-Mail mit einer leicht geschönten Version der Tagesereignisse zu komponieren, der zufolge ich die Position von Carmichael Music umfassend dargelegt und Wyatt mein Angebot törichterweise ausgeschlagen hätte. Als Nächstes beschließe ich, nach Columbus zurückzufahren, mich irgendwo anders als im Budget-Beater Motel einzuquartieren und eine Tavor zu nehmen, was als Ersatz für die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe ausreichen muss.
Als ich wieder losfahre, fühle ich mich schon ein bisschen besser. Sicherheitshalber habe ich in dem Schneetreiben sämtliche Lichter angeschaltet, einschließlich der Warnblinkanlage. Wenn ich es mir recht überlege, besteht ein winziger Hoffnungsschimmer, dass Wyatt vielleicht doch nicht bei Phoebe anruft: Er wirkt nicht unbedingt wie der kommunikativste Zeitgenosse. Eher einer von der Sorte, der ein paar Stunden lang schweigend am Küchentisch sitzt und vor sich hin brütet, um dann einen langen, windumtosten
Spaziergang durch die frostige Einöde zu unternehmen.
Doch dann lässt der Gedanke an Wyatt eine ganze Serie unerträglicher Bilder vor meinem inneren Auge ablaufen, und mir
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