Zuckerguss und Liebeslieder Roman
abonniert.«
Da wir gerade so nett miteinander plaudern, beschließe ich, die Gelegenheit zu nutzen. »Wie hat es denn bei Ihnen angefangen?«, frage ich. Dazu sagt Wyatt praktisch nie etwas.
»Angefangen?«
»Mit der Musik. Haben Ihre Eltern Sie dazu ermutigt?«
»Nö. Die kann man nicht als musikalisch bezeichnen. Ich hatte eine Lehrerin in der Schule … Miss Horner.«
»Miss Horner!« Das ist Neuland für mich. Wyatt hat noch nie ein Wort darüber verloren.
»Ja. Mr. Horners Schwester. Sie hat mich ganz schön rangenommen. Jeden Tag musste ich nach der Schule noch dableiben und Klavier üben. Und wenn ich mich verspielt habe, gab’s eins mit dem Lineal auf die Finger.«
Ich wusste doch, dass irgendwer die Rolle des Zuchtmeisters hat übernehmen müssen.
Wyatt zuckt mit den Achseln. »Es hat funktioniert.«
Manchmal muss ich mir ins Gedächtnis rufen, dass es in Barnsley eben ein bisschen rauer zugeht als in New Malden.
»Auf der Highschool habe ich dann mit Gitarre angefangen und mit den Jungs in einer Band gespielt.«
»Die von der Straßeninspektion von Scott County.«
Wyatt nickt. »Chris und ich haben Songs geschrieben.«
»Chris?«, frage ich überrascht nach.
»Er hat wirklich großes Talent als Songschreiber. Aber er singt immer nur Coverversionen. Das Problem ist, dass er nicht an sich glaubt.« Aus irgendeinem Grund blickt er mich an dieser Stelle lange und durchdringend an.
»Na jedenfalls«, redet er weiter, »als ich mit der Schule fertig war, wollten meine Eltern, dass ich mir einen Job auf einer Farm suche. Und da ist Miss Horner eingeschritten.«
»Sie hat mit Ihren Eltern gesprochen?«
Schweigen. »Nein«, sagt Wyatt trocken. »Das hätte zu nichts geführt. Nein, sie hat mir das Geld für die Busfahrkarte nach Nashville gegeben.«
Ich brauche ein bisschen, um das zu verarbeiten. »Sie muss furchtbar stolz auf Sie gewesen sein«, sage ich mit Wärme.
»Vielleicht.« Wyatt blickt auf den dunkler werdenden Himmel. »Sie ist vor ein paar Jahren gestorben - in meiner übelsten Zeit. Ich hab es nicht mal fertiggebracht, ihr das Geld für die Busfahrkarte zurückzuschicken.« Er sieht mich grimmig an. »Was halten Sie davon, Alice? Das ist es, was der Ruhm mit den Leuten anstellt - er verdreht ihnen den Kopf und lässt sie glauben, sie wären der Mittelpunkt der Welt. Ich schätze, sie war ziemlich enttäuscht von mir.«
Ich möchte widersprechen, aber etwas in Wyatts Tonfall lässt mich schweigen.
»Das ist das Problem, Alice«, fährt er fort. »Manche Dinge kann man nicht wiedergutmachen.«
Es ist dunkel geworden. Wyatt steht auf und lehnt sich an das hölzerne Geländer der Veranda. Wie selbstverständlich stelle ich mich neben ihn. Wir schauen zu den Sternen hoch.
»Manchmal, wenn es richtig stockfinster ist, so gegen drei Uhr morgens, kann man von hier aus Sternschnuppen sehen«, sagt Wyatt.
Es ist ganz still rings um uns.
Vor langer Zeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass Mum mich sehen kann, wo immer sie auch sein mag. Ich denke, wenn sie jetzt so zu mir herabschaut, wie ich da auf Wyatts Veranda stehe und auf das dunkle Land und die Lichter des Ortes sehe, weit weg von meiner Heimat, dass Mum sich für mich freuen würde. Auch wenn das alles nicht ganz real ist und nicht von Dauer sein wird, auch wenn nun der Zeitpunkt näher rückt, an dem ich nach England zurückkehre, auch wenn ich immer noch nicht alles erreicht habe, was ich vorhatte. Trotz alledem glaube ich, dass sie zu mir herunterschaut und lächelt.
Wyatt rückt näher an mich heran und legt den Arm um mich. Ein paar Sekunden lehne ich mich an ihn, an seinen harten, warmen Körper. Wenn ich ihn jetzt ansehe, werde ich wissen, ob es nur eine kameradschaftliche Geste ist wie zwischen zwei guten Freunden, die beieinanderstehen, oder ob mehr dahintersteckt. Und dann überkommt mich Furcht. Denn in diesem Moment gestehe ich mir ein, was ich schon seit einiger Zeit zu ignorieren versuche - dass ich mehr als nur eine Freundschaft will. Lieber die Ungewissheit ertragen als den Schmerz der Enttäuschung. Lieber ein bisschen als alles oder nichts. Lieber auf Nummer sicher gehen als riskieren, verletzt zu werden. Oder?
Ich löse mich, ohne zu Wyatt hinzusehen, und wende mich wieder dem Tisch zu.
»Ich nehme die Gläser mit hinein«, sage ich.
Dann gehe ich zurück ins Haus mit seiner hell erleuchteten Küche.
27. KAPITEL
Zwei Wochen später fahre ich zum Treff der Barnsleyer Vollzeitmütter, um meinen
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