Zuckerguss und Liebeslieder Roman
allmonatlichen Babyflüsterer-Vortrag zu halten. Der Himmel ist wolkenlos, auf den Feldern sprießen buschige Sojapflanzen und Zuckermaisstauden. Die üppigen Rasenflächen rund um die Bungalows am Ortsrand von Barnsley sind saftig grün und frei von Unkraut. Während ich mit meinem Ford Focus, für den ich bei Avis nunmehr einen langfristigen Mietvertrag abgeschlossen habe, so dahinfahre, winke ich Fremden zu, die auf Rasenmähertraktoren ihre Bahnen ziehen und zurückwinken. Das macht hier jeder. Manche Senioren sitzen den
ganzen Tag draußen auf der Veranda und grüßen die vorbeifahrenden Wagen mit erhobener Hand.
Nach bisher drei Vorträgen vor der Barnsleyer Gruppe der Vollzeitmütter habe ich allmählich mehr Zutrauen sowohl zu meinen Fähigkeiten als öffentliche Rednerin wie als Expertin für Kinderpflege. Geschrieben werden meine Vorträge von Carolyn. Heute befassen wir uns mit Ernährung, ein Thema, das ich bisher ängstlich vermieden habe, aber Carolyn hat darauf bestanden.
Rachel wohnt in einem Neubaugebiet in einer Sackgasse, an der insgesamt sechs Häuser stehen. Ich parke und finde es bedauerlich, dass ich nicht wie Supernanny ein schwarzes Londoner Taxi fahre. Die Häuser ähneln Neubauten in Großbritannien - Ziegelgebäude mit Ziergiebeln und Pseudo-Bleiglasfenstern. Aber anders als in Großbritannien kann man hier nicht mit ausgestreckten Armen zwei Häuser gleichzeitig berühren. Alle Anwesen in dieser Sackgasse namens Glenn Close verfügen über Riesengärten, Doppelgaragen und Küchen von etwa der Grundfläche unserer Wohnung in Southfields. Hier ist übrigens alles nach John Glenn benannt, dem berühmten Astronauten, der als erster Amerikaner die Erde umrundet hat. Ich sehe schon einige Wagen auf Rachels Zufahrt stehen, als ich zur Haustür gehe und auf den Klingelknopf drücke.
Rachel ist dieses Jahr die Vorsitzende der Gruppe, und deshalb konnte ich bisher nicht klarstellen, dass ich nicht die Babyflüsterin von Southfields bin. Damit würde Rachel vor der Gruppe das Gesicht verlieren. Rachel fällt mir zur Begrüßung um den Hals und führt mich in die Küche. »Vorstellen muss ich dich ja nicht mehr, Alice.«
»Hallo, Alice«, sagen Brandy, Candy und Tammy im
Chor. Manchmal werfe ich sie ein bisschen durcheinander, und ich weiß immer noch nicht ganz genau, welches Kind zu welcher Mutter gehört. Aber ich weiß, was mich erwartet. Alle haben etwas zu essen mitgebracht, und alle sagen im Vorhinein, dass sie keinen Bissen anrühren werden. Brandy wickelt gerade einen Erdbeerkuchen aus. »Mit zuckerfreier Gelatine«, erklärt sie; Brandy hat mir früher einmal anvertraut, dass sie erwägt, sich chirurgisch den Magen verkleinern zu lassen. Wenn sie Engländerin wäre, würde Brandy sich als fett bezeichnen, aber hierzulande ist niemand fett, sondern bloß »kräftig gebaut«.
Mittlerweile kenne ich sämtliche Mitglieder. Es sind ungefähr zehn Vollzeitmütter, alle in beigefarbenen Shorts, T-Shirts und praktischen Sandalen. Die Babys sind sehr viel modischer: Die Jungen tragen kleine blaue Shorts und weiße Polohemden, die Mädchen rosa Rüschenkleidchen mit passenden Schleifen auf dem Kopf.
»Alice!«, ertönt eine wohlvertraute Stimme. Sie gehört Dolores, die gerade mit ihrer Enkelin Stacey hereinkommt. Stacey ist Madisons ältere Schwester. Sie hat vor sechs Monaten, mitten in ihrem letzten Jahr an der Highschool, ein Baby bekommen. Der Vater war der Kapitän des Footballteams der Barnsleyer Highschool, und Dolores hat nicht allzu viel Positives über ihn zu sagen. Baby Tiffany sticht mit ihrem Jeansanzug im Used-Look und den Diamant-Ohrsteckern unter den anderen Babys heraus. Manche aus der Müttergruppe begegnen Stacey ein bisschen kühl, aber ich mag sie.
Wir sehen uns relativ häufig, weil sie oft bei Madisons Gesangsstunden dabei ist und Baby Tiffany zu »Hit Me Baby One More Time« auf den Knien hopsen lässt. (Ich nehme Madison auf Kassette auf, und Wyatt sagt mir, worauf ich
achten soll.) Mittlerweile bin ich Madisons offizielle Gesangslehrerin und besuche sie zwei Mal pro Woche im Trailerpark von Barnsley. Madisons und Staceys Vater kenne ich bis heute nicht. Offenbar arbeitet er dauerhaft irgendwo auswärts.
Als Letzte kommt Sara, die sich gern als Barnsleys Vorzeigeintellektuelle betrachtet, weil sie Baby Hillary in einer Wippe aus Guatemala transportiert und einen Honda Hybrid fährt.
Sara begrüßt mich ein wenig reserviert. »Guten Morgen, Alice«, sagt sie mit
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