Zuckerguss und Liebeslieder Roman
Opa ist, weiß ich deshalb, weil er einen dichten weißen Bart hat und zu seinem kragenlosen karierten Arbeitshemd eine Jeanslatzhose trägt.
Er gibt mir keine Chance, etwas zu sagen. »Wenn es um Casey geht, der ist nicht da. Die Schulschwester sagt aber, er ist kerngesund. Wenn Sie vom Gesundheitsamt kommen wegen meiner Frau, sie schläft und darf nicht gestört werden.«
»Eigentlich …«
»Und wenn Sie vom Gericht sind, habe ich Ihnen nichts zu sagen.«
»Es geht um Mary Lou«, sage ich rasch. »Ich bin Alice Fisher. Ich wohne auf der Farm von Wyatt Brown. Vielleicht hat Casey mich ja mal erwähnt.«
Opa betrachtet mich nur noch misstrauischer. »Nein. Er hat nie was von Ihnen gesagt.«
Hoffentlich ist es mir gelungen, meine Überraschung angesichts
dieser Bemerkung zu verbergen. Ich versuche, mich umgänglich und locker, zugleich aber auch geschäftsmäßig und professionell zu geben - wie eine ausgebildete Sozialarbeiterin. »Dürfte ich vielleicht hereinkommen?«
Er mustert mich ein paar Sekunden, nickt dann und hält mir die Tür auf. Ich könnte mir vorstellen, dass diese vorbehaltliche Aufnahme etwas mit dem Outfit zu tun hat, das ich mir eigens zu dem Anlass in der Mall gekauft habe: langes dunkelblaues Trägerkleid, roter Stehkragenpulli und schwarze Ballerinas mit flachem Absatz. Wyatt hat mich fragend angesehen, als ich heute aufgebrochen bin, aber ich halte mich weiter an mein Versprechen gegenüber Casey, nichts von dem drohenden Verkauf zu sagen, der wie ein Damoklesschwert über Mary Lous Haupt hängt.
Bevor Opa es sich am Ende noch anders überlegt, bin ich wie der Blitz drinnen. Er geht voran durch einen kleinen Vorraum mit dunklen Dielen. Geradeaus sehe ich ins Wohnzimmer. Es ist durch verblichene flaschengrüne Vorhänge, die an Messingringen hängen, stark abgedunkelt. Ich erspähe ein Sofa mit Rückenteil und Armlehnen aus Holz und darüber ein farbenfrohes Ölgemälde vom Letzten Abendmahl, einen Schaukelstuhl, kleine Tische mit Spitzendeckchen, Familienfotos und eine Petroleumlampe. Es riecht nach alten Leuten: eine Mischung aus Möbelpolitur, Staub und gekochtem Kohl.
»Oma hat sich ein bisschen hingelegt«, sagt er und deutet mit dem Kopf zur Holztreppe mit dem schmalen, fadenscheinigen Teppichläufer in Purpurrot. Ich bin überrascht: Casey hat mir versichert, dass Oma immer auf den Beinen ist, putzt, kocht oder Gutes für die Armen tut.
Statt wie erwartet ins Wohnzimmer führt er mich in die Küche. Sie sieht aus wie ein Fünfzigerjahre-Modell aus
einem Wohnmuseum: eine Emaillespüle, ein Kühlschrank mit klobiger Tür und geschwungenem Abschluss, auf dem in metallenen Lettern »Frigidaire« steht, und ein Tisch mit Linoleumplatte und umlaufender Metallkante. Weiter fällt mir auf, dass die Arbeitsflächen voller Brösel sind, sich in der Spüle das schmutzige Geschirr türmt und der Fußboden aussieht, als wäre er seit Wochen nicht mehr geputzt worden. Merkwürdig: Casey hat nichts davon verlauten lassen, dass es Oma nicht gut geht.
Ich setze mich auf einen der fahlgelben Holzstühle mit den roten Plastikpolstern.
Ich räuspere mich. Räuspere mich noch mal. »Ich bin wegen Mary Lou hier. Casey sagt, Sie haben vor, sie zu verkaufen.«
Ich warte auf eine Bestätigung, aber Opa sieht mich nur ausdruckslos an.
»Wenn ich Casey richtig verstanden habe, könnte Mary Lou nächstes Jahr bei der Ohio State Show einen Preis gewinnen. Deshalb habe ich mir überlegt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, wie wir sie behalten können. Ich weiß, wie sehr Casey an Mary Lou hängt.« Ich hole tief Luft. »Und ich bin mir sicher, dass Wyatt gern aushelfen würde, wenn er wüsste, dass Hilfe vonnöten ist.«
Opas Kopf ruckt hoch. »Wyatt Brown? Dieser Nichtsnutz? Was hat der denn überhaupt hier zu schaffen?«
Mich befällt akutes Unwohlsein. Ich wähle meine Worte äußerst sorgsam. »Ihm ist sehr daran gelegen, der Gemeinde zu helfen.«
Opa schnaubt nur. »Wyatt Brown hat sich von seinen Eltern losgesagt«, zählt er an den Fingern ab, »von seiner Kirche und von dieser Stadt, um sich in Alkohol zu ertränken und losen Frauenzimmern nachzujagen.« Er haut mit
der Faust auf den Tisch. »Ich nehm keine Almosen vom Teufel persönlich an.«
Auweia. Für Opa ist Wyatt ganz offensichtlich nicht bloß ein großer Lümmel. Aber wieso darf Casey dann Mary Lou bei Wyatt unterstellen?
Oder hat Casey ihm gar nichts davon gesagt?
»Mary Lou geht’s da ganz prima, wo sie ist«, sagt Opa
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