Zuckerleben: Roman (German Edition)
hier in die Zukunft und in die Otacier Gemeinde investieren. So kann jeder ein bisschen was fürs Brot verdienen.«
»Ach was? Jetzt tu nicht so. Du bekommst doch das Meiste vom Nierengeld, Bulibascha …«
Tudorel-Deomid Balmus schaut traurig zu Mihailytsch, schlürft Ziegenmilch aus seinem Tonkrug und antwortet mit einer Gegenfrage:
»Weißt du, wie viele Einwohner Otaci hat?«
»10 000 vielleicht, so um den Dreh.«
»Genau. Und die Hälfte davon sind Zigeuner. Und ich. Ich bin der Zigeunerhauptmann von Otaci, Mihailytsch. Ich bin ihr Bulibascha! Überleg dir mal, was das für ein Kostenfaktor ist! Mit dem Nierengeld sorge ich für diese knapp 5000 Menschen, Nichifor, Gawril, Nichifors gichtige Großmutter Kleopatra, all die Otacier Zigeuner, denen sonst keiner einen Job geben würde, weil sie keiner haben will – die Moldawier nicht, die Rumänen nicht, die Ukrainer nicht, die Russen nicht, und der Westen auch nicht. Glaubst du, im Westen will sie jemand haben? Im Westen will die Zigeuner niemand haben. Ich bin der Einzige, der ihnen Arbeit gibt. Und wenn sie nicht mehr arbeiten können, sorge ich dafür, dass sie trotzdem was zu essen haben. Ich bin ihr Hauptarbeitgeber, ihre Kranken-, Renten-, Unfall- und Rechtsschutzversicherung, Polizei, Mutter und Vater in einer Person, wie man sagt. Ich bin der einzige Grund, warum sie hier gut leben und nicht in der Gosse verenden wie die rumänischen Zigeuner drüben, jenseits des Pruth. Und soll ich dir sagen, was passieren würde, wenn es das hier alles nicht gäbe? Diese Häuser, dieses bessere Leben hier, weswegen es sich für die Zigeuner lohnt, in Otaci zu bleiben? Die würden alle morgen, wenn nicht gleich heute, in einen Lkw steigen und über die grüne Grenze nach Deutschland gehen und dort politisches Asyl beantragen. Ein paar Tage später tauchen sie in Hagen, Dieseldorf, Bonn, Berlin und München auf, scharenweise, einer auf dem anderen, mit fünfzehn Kindern im Schlepptau, wie die aus dem Rumänischen, strecken ihre hungrigen Fingerchen nach dem schönen, saftigen Körper des deutschen Sozialstaats aus, um ein wenig daran zu knabbern, und sagen denen da drüben: ›Grüß Gott! Her mit dem schönen Wirtschaftswunder-Leben, deutsche Kollegas!‹ Und, was denkst du, Mihailytsch? 5000 potenzielle Zigeuner-Asylbewerber in Flüchtlingslagern unterzubringen, zu betreuen, zu ernähren und abzuschieben, das kostet einiges. Und ich bin der einzige Grund, warum sie noch nicht drüben sind, in Hagen, Dieseldorf, Bonn, Berlin und München. Weil ich finanzier die Otacier Zigeunerschaft, die dank der moldawischen Nieren so lange kein Asyl braucht, solange den moldawischen Nieren in kranken deutschen Körpern noch bereitwillig Asyl gewährt wird. So schaut’s nämlich aus im Knusperhaus, Mihailytsch! Abgesehen davon: An den anderen Geschäften werdet ihr von der Dondușenier Schwarzhändlergilde ja auch beteiligt. Und nicht wenig. Da habt ihr keinen Grund, unzufrieden zu sein, gell, Mihailytsch?«
»Haben wir nicht.«
Der Bulibascha von Otaci lacht.
»Eben. Siehst, wie blendend wir uns verstehen?! Magst du vielleicht noch einen Espresso oder eine Mehlspeise haben, Mihailytsch? Oder hast du vielleicht gar Hunger? Ich kann da was kommen lassen – wie wär’s mit einem frisch marinierten Wildsau-Schaschlik in Begleitung eines Fläschchens Cabernet? Na, wär das was?«, erkundigt sich der Bulibascha und greift schon zu seinem Funkgerät, doch Mihailytsch beeilt sich, das Angebot abzulehnen, besorgt, dass, wenn er zu lange beim Bulibascha verweilt, Gawril mit Zhurkows Karpfen unerwartet auftauchen und ihn somit in die Bredouille bringen könnte.
Tudorel-Deomid Balmus legt enttäuscht das Funkgerät wieder weg.
»Schade, aber wie du meinst, Mihailytsch, wie du meinst … Übrigens, dieser junge Implantologe aus Bălți, den euer Gilden-Iapăscurtă empfohlen hat, der ist wirklich spitze! Ich meine, nicht nur fachlich, sondern auch menschlich. Vor allem menschlich! Wie der mit den Patienten gesprochen hat! Mit so viel Herz, besonders droben in Florești, wo wir ganze elf Nieren bekommen haben – also da hätt ich mich fast selber hingelegt und eine Niere hergegeben.«
»Das werde ich Iapăscurtă ausrichten, der wird sich bestimmt freuen.«
»Ja, unbedingt! Und Serge? Wie geht’s ihm?«
SERGE , wer zum Henker ist SERGE ?
Mihailytsch trinkt seine Flasche Tuborg aus, stellt sie auf den Tisch, nutzt die Zeit, um nachzudenken. Dann fällt es ihm wieder ein, dass
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