Zuckerleben: Roman (German Edition)
Hlebnik gekleidet ist, der zwar gut, aber nicht zu elegant ist und weder einen Anflug von einer bourgeoisen Koketterie noch von einer anarchistischen Nachlässigkeit verrät, sondern ebenfalls funktional-halbmodern wirkt. Hinter Hlebniks Schulter ist eine kleine Gestalt erkennbar, die wachsam vor der Kreml-Mensa steht. Wahrscheinlich ist es ein KGB -Beamter, der am Eingang zur Kreml-Kantine die Dienstausweise des Zentralkomitees der KP d SU kontrolliert, denkt Tutunaru und schaut sich wieder den Zuckerfabrikdirektor genau an. Aus einem unerklärlichen Grund hat Hlebnik glänzend fettige Lippen. Tutunaru legt das Foto wieder auf den abgesehen von einer einfachen Standardlampe und einer kleinen Lenin-Büste leeren Schreibtisch des abwesenden Apparatschiks zurück und sieht sich weiter in Hlebniks Arbeitszimmer um.
Neben dem Schreibtisch eine gemütlich aussehende Couch aus schwarzem Lederersatz, zwei Besuchersessel, und ein kleiner Tisch; auf Letzterem befindet sich der illustrierte Band Von der guten und bekömmlichen Kost mit durchweg für den gewöhnlichen Sowjetbürger utopischen Rezepten, deren Zutaten im Normalhandel nicht erhältlich sind; dahinter eine verglaste Bücherwand mit allen Standardwerken des Marxismus-Leninismus und schön gebundenen Werken der russischen Literatur. Aber freilich kein Samisdat und nichts, was als nicht linientreu oder gar kompromittierend gewertet werden könnte. Tutunaru geht auf das Bücherregal zu, öffnet die Glaswand und stöbert durch die Bücher. Eine Staubschicht hat sich auf ihnen gebildet. Nur eines der Werke weist auffallend weniger Staub auf als die anderen, es ist die Erstausgabe von Gorkis Mutter .
Ein Verehrer des sozialistischen Realismus, denkt sich Tutunaru und schmunzelt. Pitirim Tutunaru greift zu Gorkis Mutter , merkt aber gleich, als er daran zieht, dass Gorkis Buch eine Kunststoff-Attrappe ist; er versucht es mit einem anderen Buch, kann dieses jedoch genauso wenig herausziehen. Pitirim stellt fest, dass auch alle anderen Bände in Hlebniks Bibliothek am Bücherregal festmontiert sind. Enttäuscht haut der Moldawier mit der Faust auf Gorkis Mutter und dreht sich weg.
Ein dezentes mechanisches Geräusch erklingt, ähnlich einem leisen Knurren. Tutunaru sieht sich um, ob vielleicht doch jemand da ist, in Hlebniks Datscha. Dann merkt der Spekulant, dass die Bücherwand ein kleines Stück hervorgetreten ist. Es ist ein Spalt entstanden zwischen dem verglasten Bücherregal und der Wand, der vorher eindeutig nicht da war. Tutunaru zieht die Bücherwand an sich, die sich deutlich leichter verrücken lässt, als er erwartet hätte, und sieht auf einmal vor sich eine Treppe, die nach unten in die Dunkelheit führt.
Unter dem Transparent einer vollbusig-muskulös-aufgebrachten Fabrikarbeiterin mit dem zum Kampf gegen den Klassenfeind verschriftlichten Aufruf »Wenn nicht ICH und nicht DU, WER dann?« kann Wladimir Pawlowitsch nach einigen Bemühungen endlich das obere Ende des Seils mit einer komplizierten Knotenkonstruktion an einem Metallzylinder festmachen. Er zieht sicherheitshalber einmal kräftig daran, um sich davon zu überzeugen, dass seine Improvisation stabil genug ist, und dann zündet sich der Held der sozialistischen Arbeit zur Belohnung eine Ballade an. Mit der Zigarette zwischen den Fingern kritzelt Wladimir Pawlowitsch folgende Abschiedszeilen auf ein Stück mit Schmieröl besudeltes Papier:
45 Jahre Schufterei und alles für den Arsch. Ihr könnt mich mal.
Ilytsch.
Ilytsch macht einen kräftigen Punkt, der das Blatt durchlöchert, faltet das Papier und steckt den Zettel samt Bleistift in die Innentasche seines aus einem polnischen Nomenklaturaladen importierten Anzugs, steht auf, zieht seinen Kopf in die selbst angefertigte Schlinge und geht zum Geländer der Plattform Ebene 3 mit der Ballade im Mund. Ilytsch überprüft den Schlingenknoten noch einmal und fängt mit einem Anflug von Unzufriedenheit an, diesen neu zu machen. Unten, wieder auf dem Schutthaufen sitzend, betrachtet Felix Edmundowitsch neugierig den Helden der sozialistischen Arbeit, der ihm die Worte zuruft:
»Felix Edmundowitsch, das hier ist kein Anblick für Füchse. Geh lieber woanders spazieren.«
Pitirim Tutunaru geht weiter in Hlebniks großzügig angelegtem Staatsdatscha-Weinkeller bis zu einer Abzweigung, wo sich ein ungesichertes Loch – ein »ungarisches« Loch – im Boden befindet. Tutunaru klettert an einer Holzleiter durch das Loch hinunter. Der junge Moldawier
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