Zuckerleben: Roman (German Edition)
Aufschrift BROT steht. Flocosu vergewissert sich, dass der Nacht- Storozh nicht in seiner Nähe ist, springt auf den Laster auf, drückt die Türklinke zuerst nach innen und zieht sie dann ruckartig zu sich. Die Tür gibt mit einem Ächzen nach und springt auf. Der Ewig Hungrige Historiker schiebt routiniert seine dürre Hand hinein und entnimmt dem Lkw ein quadratisches Brot, das für die Morgenlieferung an das Lebensmittelgeschäft Nr. 25 auf der Belyaeva vorgesehen war. Vorsichtig schließt Flocosu die Tür wieder und verschwindet in der Botanik. Auf der anderen Seite des Zaunes, wo sich der EHH R. F . sicher und unbeobachtet fühlt, bleibt er stehen, reißt ein Stück vom erbeuteten quadratischen Schwarzbrot ab und befördert es in seinen wässrigen Mund. Vor Genuss verschließt der Akademiker ein wenig seine feucht gewordenen Augen und lässt ein leises Glücksseufzen ertönen. Er denkt darüber nach, dass es sehr fein wäre, in Italien zu leben oder in Polen, einem Land, von dem er viel Wunderbares gehört hat. Er erinnert sich an die Reiseerzählungen von Vadim dem Maler, der schon mal in der Nähe von Olsztyn mit sowjetischen Fleischwaagen gehandelt hat. Vadims Berichten zufolge gibt es in Polen Geschäfte, die jeden Tag über zwanzig Wurstsorten (jede von ihnen mindestens so gut wie die heimische Doktorenwurst) führen, und große UNIVERSAM s, wo man alles kaufen kann, angefangen von Socken und Stereoanlagen der Marke International bis hin zu Saiblingen, die halbwegs bei Bewusstsein vor ihren potenziellen Käufern in einem komfortablen Aquarium schwammen. Und dafür muss man nicht mal Coupons oder Dollar in der Tasche haben, man kann ganz einfach in polnischen Rubeln bezahlen. Und die Leute essen kapitalistische Gerichte wie Pizza oder amerikanische Fleischlaibchen mit länglichen, in Öl gekochten Erdapfelstückchen, die sie in ein dickflüssiges Konzentrat aus Tomatensauce eintunken, das sie liebevoll »Ketchup« nennen. Es gibt Bananen im freien Handel, und man muss niemanden bestechen oder stundenlang in einer Schlange stehen, um an eine Kiste Pepsi-Cola zu kommen. Dazu hören die Polen ungestraft dekadente Musik aus dem Westen wie Modern Talking oder Roxette und Metallica.
Das Erste, was Vadim der Maler getan hatte, als er bei Przemyśl polnischen Boden betrat, war, sich eine Banane zu kaufen und diese mit Bedacht zu essen, denn seine Freunde in Moldawien hatten ihm extra den Auftrag erteilt, ihnen genaustens den Geschmack dieser Frucht zu beschreiben. Vadim rekapitulierte den Bananengeschmack als eine Mischung aus Apfelmus, Gelatine und Brot mit der Konsistenz einer angefeuchtetenAlyonuschka-Seife.
Der Ewig Hungrige Historiker merkt, dass er weit vom Weg abgekommen ist und sich nun in einem abgelegenen Teil der Stadt befindet, wo sich eine unasphaltierte Schotterpiste zwischen großzügig angelegten Wein- und Obstgärten einen steilen Hügel emporschlängelt. Dort trifft der Ewig Hungrige Historiker auf Tutunaru, der mit einer Parastas-Kerze in der Hand die Hausnummern der Datschas inspiziert.
»Grüß dich, Pitirim!«, ruft Flocosu und hält Tutunaru ein Stück vom erbeuteten Brot entgegen. »Wohin des Weges?«
Tutunaru, dessen Gesicht immer noch von seinem Dusch-Besuch in der Zuckerfabrik gezeichnet ist, bedankt sich, verspeist das Stück Brot und teilt dem EHH R. F. mit, dass er vorhat, in Hlebniks Datscha einzubrechen. Der Ewig Hungrige Historiker entgegnet Pitirim Tutunaru, Hlebniks Datscha sei weiter oben, auf dem Hügelrand, aber dass es da vermutlich nichts zu holen gebe, außer höchstens Ärger, da sie immerhin einem Nomenklatura-Mitglied, wenn auch einem nicht sehr hohen, gehöre.
»Ich mach’s trotzdem. Ich hatte so eine Eingebung«, sagt Tutunaru und grinst. Auf fast identische Weise wie Chuck Norris, dessen Gesicht als Schwarz-Weiß-Druck auf Tutunarus Unterhemd zu sehen ist.
»Musst du wissen. Ach ja, das Kilo Doktorenwurst, das ich dir noch schulde, kriegst du, sobald ich ein wenig flüssiger bin«, sagt der Ewig Hungrige Historiker, wickelt den Rest vom Schwarzbrot in sein kariertes Hemd ein, um beide Hände frei zu haben, zieht sich routiniert auf die defekte Straßenlaterne hoch, die direkt am ungestrichenen Zaun der Datscha mit der Nummer 52 steht, klettert mühelos daran empor und springt über ebenjenen Zaun in das Radieschenfeld der Datscha. Dort verweilt der Akademiker einige Augenblicke lang und horcht. Als er sich sicher ist, keine suspekten Geräusche zu
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