Zuckerleben: Roman (German Edition)
inspiziert die sich im Podwal der Staatsdatscha des Zuckerfabrikdirektors befindenden Flaschen und 3-Liter-Gläser mit Eingemachtem, moldawischem Rotwein und Kompott. Tutunaru beobachtet eine Zeit lang die verzerrte Spiegelung seines eigenen zerschundenen Gesichts in den Gläsern und lächelt. Als der Moldawier auf den Boden sieht, entdeckt er dort wahllos ausgebreitete Zeitungen, die allesamt über die nach dem XXVII. Parteitag beschlossene Gorbatschow’sche Prohibition berichten. Die rechte Ledersandale des Dondușenier Spekulanten zum Beispiel steht auf einem Artikel der Zeitung Flämmchen , in dem vom Traktoristen Bogdan Grisenko berichtet wird, der im Herbst des Jahres 1986 das örtliche UNIVERSAM in Zhmerinka betritt und zwei Flaschen der toxischen Chemikalie Gliftor erwirbt. Während der Mittagspause lädt der selbstlose Grisenko seine Arbeitskollegen auf ein Getränk ein. Zusammen mit diesen macht sich der Landwirtschaftsarbeiter anschließend auf den Weg in die Werkstatt der Konstruktionsabteilung seiner Kolchose, wo zwei weitere Techniker einen Teil des Gliftors degustieren und in der Folge zusammen mit dem Traktoristen Grisenko auf dem örtlichen Friedhof landen.
In Nüchternheit und Kultur wird von den Erfolgen der Unionalen Freiwilligengesellschaft für den Kampf für Nüchternheit seit ihrer Gründung 1985 berichtet und gleichzeitig dementiert, dass Alkoholkonsum die Sexualperformanz steigern oder gegen die Tschernobyl-Radioaktivität schützen könne. Tutunaru hebt diesen Artikel auf, den jemand mit einem dicken blauen Filzstift markiert hat und macht es sich in einem zu einer Sitzgelegenheit umfunktionierten Weinfass des Zuckerfabrikdirektors Hlebnik bequem. Dort entdeckt Tutunaru auf einem kleinen Degustationstisch (ebenfalls aus Fassbrettern mit der Aufschrift » PURCARI-WEIN « zusammengezimmert) ein diesmal echtes Exemplar von Gorkis Mutter sowie einen weiteren Stapel an markierten Artikeln. Darunter die Todesmeldung des zu früh an Leberzirrhose verstorbenen Parteisekretärs Tschernenko.
Der gleich im Anschluss formulierte Aufruf des Nüchternheit und Kultur -Journalisten Bogrinowitsch »Unser aggressiver Kampf gegen Trunkenheit und Alkoholismus!« klingt wie eine Aufforderung, den dem Alkohol zum Opfer gefallenen Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Tschernenko zu rächen. Er ist von einer langen Reihe von Parteifunktionären unterschrieben und mit einem roten Filzstift dick eingekreist. Darunter wird die Preisreduzierung der vaterländischen Fruchtsäfte erwähnt und der Umstand unterstrichen, dass Kefir und die beim Sowjetvolk beliebte Likörschokolade »Krokodil Genadij«von nun an aus dem Verkehr gezogen werden würden, um den Kampf gegen den Alkoholismus zu unterstützen.
»Was für Komiker«, entfährt es Pitirim Tutunaru beim Anblick einer Meldung über die alkoholische Psychose und die biblische Devastation beim Volk der Nivki in der Sachalin-Oblast, wo der Berichterstatter, schon wieder Bogrinowitsch, bei seinen Erkundungen in der fernen Region eine Zivilisation angetroffen hat, die nach seiner Einschätzung ausschließlich von Alkohol, Syphilis und Wirtschaftskriminalität dominiert wird. Und dann fällt es Pitirim Tutunaru auf: Der fünfzehnte Eintrag von oben in der Liste der Befürworter von Bogrinowitschs Aufruf »Unser aggressiver Kampf gegen Trunkenheit und Alkoholismus!« lautet auf Direktor Hlebniks Namen, wo, nach den Initialen W. W. , seine Funktion als Vorsitzender des Nüchternheitskomitees des Rayons Dondușeni, Moldawische SSR , angeführt wird. Tutunaru stellt sich folgendes Bild vor: Zuckerfabrikdirektor Hlebnik sitzt bei einem defizitären nächtlichen Fläschchen moldawischen Cognacs im geheimen Weinkeller seiner Staatsdatscha und redigiert seine nächste Rede für die Versammlung des Nüchternheitskomitees. Inspiration holt er sich unter anderem beim verrückten Nüchternheit und Kultur -Korrespondenten Bogrinowitsch, dessen Artikel er, je nach Relevanz, mal mit einem blauen, mal mit einem roten Filzstift unterstreicht. Und vielleicht auch bei Gorkis Mutter . Womöglich war das Hlebniks Taktik, seine Position im Nüchternheitskomitee auszunutzen, um die Nomenklatura-Karriereleiter schneller emporzusteigen. Vielleicht, überlegt Tutunaru, waren Hlebniks angepeilte Wunschstationen: Zuckerfabrikdirektor, Abteilungsleiter in der Verwaltung, Leiter der Hauptverwaltung, Stellvertretender Minister, Minister und, warum nicht,
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