Zuckerleben: Roman (German Edition)
Einsicht um seine Behandlungsnotwendigkeit zeigen will: mit einer Mischung aus Mitleid und professioneller Neugier.
Das ist die Arroganz der Debilität, denkt sich der promovierte Historiker und zieht es vor, nichts auf die unüberlegte und puerile Äußerung des alten Fabrikarbeiters zu sagen.
»Roma, du hast zu lange in der Sonne gestanden. Das hat dir nicht gutgetan. Was du jetzt brauchst, ist ein Eimer kaltes Wasser. Ein Eimer kaltes Wasser, Junge, und du wirst dich wie fabrikneu fühlen. Der Mensch muss nämlich ständig den Kontakt zum Wasser suchen. Denn das Wasser ist der Inbegriff der Heilkraft, die wir nur im Schoß der Natur erfahren! Es versorgt uns mit Energie und stärkt unser Immunsystem. Und jetzt pack Hlebniks Beine. Komm! Hier können wir den Direktor nicht liegen lassen, das bringt Unglück.«
»Willst du ihn etwa im Fluss versenken?«
»Nein. Wir müssen ihn begraben, mit einem Priester und allem Drum und Dran. Wir haben den Dahingeschiedenen angenommen, und jetzt müssen wir uns um ihn kümmern. Du willst doch nicht von Geistererscheinungen und Hlebnik-Albträumen heimgesucht werden, oder?«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Wir legen Hlebnik in den großen Bottich, bis wir alles vorbereitet haben für sein Begräbnis. Wir haben jetzt noch knapp vier Stunden Zeit, um mit der heutigen Schnapsproduktion fertig zu werden. Danach machen wir Feierabend und fahren nach Hause in die Zuckerfabrik, abendessen. Am besten noch bei Tageslicht; nicht, dass wir gegen einen Baum fahren. Und, Roma …«
»Ja?«
»Wenn du mal wieder eine Leiche hier in einem Boot vorbeitreiben siehst, dann …«
»Was, dann?«
»Lass sie bitte vorbeiziehen.«
Die beiden Sowjetbürger setzen den Weg mit ihrer Nomenklatura-Last schweigend fort und schaffen es nur unter großen, schweißtreibenden Mühen, den toten Zuckerfabrikdirekor vorsichtig in den Alkoholbottich zu legen. Und der Alkohol spritzt dabei über die Kanten des Bottichs. Feierlich! So als würde er den beiden Sowjetbürgern dafür danken, ihm ein Nomenklatura-Mitglied – den Zweiten Sekretär des Rayonskomitees der KP d SU des Rayons Dondușeni nämlich – anvertraut zu haben. Und dann gleitet Wadim Wladimirowitsch Hlebnik sanft auf den Boden des Alkoholtanks, kameradschaftlich verhüllt in eine desinfizierende Schnapsumarmung. Bei diesem friedlichen Anblick wird dem Ewig Hungrigen Historiker Roma Flocosu klar, dass er bei erster Gelegenheit unbedingt mit Pitirim Tutunaru unter vier Augen über die verschlüsselte Nachricht und über Hlebniks Leiche, die amerikanischen Cowboystiefel, den Artikel 147 des Zivilgesetzbuches der Moldawischen SSR zum unbeaufsichtigten Vieh und über den Borsalino wird reden müssen.
Über den Köpfen von Flocosu, Ilytsch und Hlebnik im Alkoholbottich hängt mit goldenen Fransen ein rotes Banner aus flauschigem, plüschartigem Stoff, das Flocosu extra als Tagesdecke aus der Zuckerfabrik mitgenommen und über dem Eingang zur Scheune, in der Ilytschs Schnapsbrennstation beherbergt ist, zum Trocknen aufgehängt hat. Im schwachen Luftzug weht auf dem weichen rot schimmernden Material der Spruch:
HIER IMITIERT DIE KUNST NICHT DAS LEBEN,
SONDERN DAS LEBEN SELBST WIRD ZUR KUNST!
Der Held der sozialistischen Arbeit Wladimir Pawlowitsch Pușcaș hängt den roten, samtigen Stoff vorsichtig ab und deckt damit den Alkoholbottich Direktor Hlebniks voller Fürsorge zu.
Zhurkows Karpfen en route zum »Holzklump«
In Sergej Wenjaminowitsch Zhurkows Garage zwischen der Enthusiasten-Chaussee und dem rayonalen Krankenhaus am östlichen Saum des alten Dondușenier Waldes, wo zuweilen Muffelwild und gestresste Wildsäue mit ihren gehorsamen Frischlingen den Automobilisten auf der Straße nach Otaci erschrecken, befindet sich ein geräumiges Aquarium mit fünf Karpfen.
Die Karpfen sind gut gefüttert und erfreuen sich bester Gesundheit. Stumm treiben sie mit sparsamen Flossenbewegungen, ohne einander jedoch je eines Blickes zu würdigen, in ihrem ewigen Ganzkörperbad. Entspannt. Und gleichgültig. In diesem Gemütszustand schwimmeln die fünf Wasserwesen oft aneinander vorbei und beobachten mit ihren die vordere Aquariumswand berührenden Mündern apathisch ihre unmittelbare Umgebung, als stünden sie vor einem Bildschirm, der ihnen die Realität vorgaukeln würde.
Ein unsichtbarer Mechanismus kurbelt das Garagentor nach oben und taucht den Raum in immer mehr Sonnenlicht, das bald auch die Karpfen in ihrem Aquarium erreicht. Zhurkow
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