Zuckerleben: Roman (German Edition)
geht im ganzen Land im Moment drunter und drüber; außerdem war er wahrscheinlich gar nicht in der Stadt, als es passiert ist. Weswegen Hlebnik also töten? Weil er vorhatte, nach Amerika auszuwandern, und damit, von einem puristischen ideologischen Standpunkt aus betrachtet, die KP d SU verraten hätte?
Unter Stalin möglich, aber jetzt, in der Krise, wo jeder schaut, wie er am besten über die Runden kommt, wen kümmert es da schon, ob ein kleiner Rayonalnomenklaturist aus den Republiken nach Amerika auswandert oder nicht? Was ist also das Motiv für Hlebniks Tötung?
Ich glaube, dass das Motiv der Borsalino ist, Element 4.) der Nachricht. Hlebnik wurde getötet, weil er einen Borsalino, den er wahrscheinlich nie zuvor in seinem Leben getragen hatte, aufgesetzt hat.
Der Borsalino also … Ich habe, ehrlich gesagt, lange gegrübelt, Ilytsch, was es mit dem Borsalino auf sich haben könnte. Nicht umsonst heißt es: ›Der Teufel steckt im Detail.‹ Aber dann ist mir Berija eingefallen, Lawrentij Berija. Wenn du dich erinnerst, es gab zwei prominente Figuren in der jüngsten Geschichte der U d SSR , die eine Vorliebe für Borsalinos hatten: Berija und Malenkow. Beide waren hohe Funktionäre der Partei. Berija hat 1953, nach Stalins Tod, versucht, die Macht im Land an sich zu reißen, und wurde von Malenkow, der Nummer 1 im Politbüro, gestürzt; bald darauf erschossen. Malenkow hat dann, auch ein Borsalino-Träger, für zweiundzwanzig Monate die Nachfolge Stalins innegehabt und ist 1957 von Chruschtschow gestürzt und davongejagt worden. Beide Borsalino-Träger haben ihre Macht gewaltsam verloren. Ich habe mal Malenkow in Moskau in der Nähe seiner Wohnung am Frunse-Kai mit einem Fotoapparat in der Hand gesehen, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte. Hartnäckigen Gerüchten zufolge ist er gläubig geworden.
Was bedeutet der Borsalino also?
In unserem Kontext ist der Borsalino meiner Interpretation nach ein Zeichen für gescheitertes Aufbegehren, das den Sturz des Aufbegehrenden zur Folge hat. Hlebnik ist gestorben, weil er metaphorisch einen Borsalino aufgesetzt hat, also, anders formuliert, weil er gegen jemanden aufbegehrt hat, der stärker war als er, und in diesem Machtkampf untergegangen ist.
So weit, so gut.
Fassen wir also die Botschaft noch mal zusammen:
Wir sollen das unbeaufsichtigte Vieh, also Hlebniks Gaben, innerhalb von drei Tagen zurückgeben. Wir sollen uns nicht mit dem Absender der Nachricht anlegen, also nicht ebenfalls, wie Hlebnik, einen Borsalino aufsetzen. Halten wir uns nicht daran, werden wir wie Hlebnik auf seinem Weg nach Amerika abstürzen. Als zusätzliches Warnzeichen kann man hier die Risse im Boot deuten, wenn man will.
Wir haben somit drei Tage Zeit, um etwas zu unternehmen. Danach werden wir mit Konsequenzen rechnen müssen.«
Ilytsch schweigt eine Zeit lang, bis er etwas sagen kann.
»Und wer schickt so eine Nachricht?«
»Der KGB .«
»Der KGB ?«
»Ja, der KGB . Ich würde auf einen talentierten Kryptologen tippen, der von der 8. Hauptverwaltung in die 6. Verwaltung, Wirtschaftsspionageabwehr und Industrieschutz, gewechselt ist. Jemand mit einem Faible für historische Pikanterien. Jemand, der einen speziellen Sinn für Humor hat und der vielleicht dereinst mit Malenkows Überwachung zu tun hatte und dadurch auf die Geschichte mit dem Borsalino kam. Demnach müsste dieser jemand einen höheren Offiziersrang bekleiden. Ein Oberst oder Oberstleutnant.«
»Ein Oberst oder Oberstleutnant? Also manchmal machst du mir wirklich Angst, Roma. Und ich meine es wirklich so«, sagt der Held der sozialistischen Arbeit und packt den toten Hlebnik bei den Armen.
Flocosu lächelt und winkt ab.
»Ich bin eben Humanist.«
Ilytsch sieht dem Ewig Hungrigen Historiker in dessen glänzende, schlaflose Pupillen, die Roma Flocosus rastlos arbeitendes Akademikergehirn fleißig mit visuellen Reizen versorgen. Und während Ilytsch das tut und Roma in die Augen stiert, als wollte er darin einen gut versteckten defizitären Gegenstand ausmachen, lockern sich die Züge des Rentners nach und nach.
»Also, so einen Schmarren hab ich noch nie in meinem Leben gehört, du Humanist! KGB , Wirtschaftsspionage, Kryptologen, Berija, Malenkow!«, ruft der sowjetische Rentner und bricht in ein Gelächter aus, das ihm die Tränen in die Augen treibt.
Flocosu beobachtet Ilytsch mit dem Gesichtsausdruck eines erfahrenen Psychiaters angesichts eines seiner Langzeitpatienten, der partout keine
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