Zuckerleben: Roman (German Edition)
steckt seine rechte Hand in die Hosentasche, entnimmt ihr eine Handvoll Sonnenblumenkerne, lehnt sich in den Motorradsitz zurück, soweit es bei dessen wenig auf den Fahrerkomfort ausgerichteter sowjetischer Konstruktion möglich ist, und genießt die Sonne, geröstete Sonnenblumenkerne knabbernd.
So vergeht einige Zeit, die Tutunaru gedanklich mit Überlegungen zubringt, die entweder mit der Italien-Mission oder mit dem Beschaffen von Wertgegenständen verbunden sind.
Einige Male hält Lawrows URAL am Straßenrand und nimmt einen Dreiertrupp gesprächiger Frauen mit aufgeschulterten Rechen von der Feldarbeit auf, die es sich in Lawrows Fahrerhäuschen gemütlich machen und wohl mit dem Sargmacher den lokalen Tratsch analysieren.
Der URAL bleibt für eine weitere weibliche Person stehen, die Tutunarus Aufmerksamkeit weit mehr auf sich zieht als die drei Frauen zuvor: Sie ist jung, Anfang, Mitte zwanzig, langes offenes kastanienbraunes Haar, sehr selbstverständlich winkt sie Lawrows URAL herbei, als wäre ihre Mitnahme terminlich vereinbart worden. Sie trägt ein nach Matrosenart gestreiftes Top, einen knielangen Rock und mit Lederriemen geschnürte Sandalen. Das Mädchen wirft eine bunte Stoffumhängetasche nach hinten auf die Ladefläche, zieht sich selbst hinauf und setzt sich auf einen Sarg.
Obwohl die Sonne scheint, fallen ein paar Regentropfen.
»Motorrad ist Geschwindigkeit, Romantik, Sport und Erholung, nicht wahr?«, sagt sie den in der U d SSR sehr bekannten Spruch und grinst Tutunaru an, der mit seinem Motorrad am Abschleppseil hängt.
»Sehr witzig.«
Tutunaru kann die Farbe ihrer Augen nicht erkennen, da das Mädchen eine große Sonnenbrille mit orangefarbenen Gläsern trägt.
Der Sommerregen wird stärker. Die Wolken verdecken die Sonne. Tropfen prasseln auf die nagelneuen Särge, und Lawrows Lkw wird langsamer. Pitirim Tutunaru wirft sich die wasserfeste Abdeckplane, die über seinen Seitenwagen gespannt war, über Kopf und Schultern und wischt ab und an mit einem alten Stück Stoff über die Windschutzscheibe seines Motorrades. Als er wieder zur Ladefläche des URAL s schaut, stellt er fest, dass das Mädchen mit der orangen Sonnenbrille einen Sargdeckel zur Seite geschoben und die Umhängetasche darin verstaut hat und sich allen Ernstes anschickt, sich hineinzulegen, in den Sarg rechts außen.
»Hej, du, da oben, Mädchen! Mach das nicht!«, ruft ihr Tutunaru zu.
»Warum denn nicht? Es regnet doch!«
»Das bringt Unglück! Leg dich nicht in den Sarg hinein!«
»Früher oder später landet jeder von uns in so einem Ding!«, sagt das Mädchen, legt sich hinein und schiebt den Sargdeckel zu.
Tutunaru schüttelt missbilligend den Kopf und zieht sich die wasserfeste Abdeckplane fester über die Schultern.
Etwa eine halbe Stunde später ist Lawrows URAL -Ladefläche voll mit Sowjetbürgern, die sich zuerst ein wenig über Tutunaru auf seinem Motorrad im strömenden Regen lustig gemacht und dabei mindestens einmal mit gespieltem Enthusiasmsus »Motorrad ist Geschwindigkeit, Romantik, Sport und Erholung!« skandiert haben, um dann zwischen Lawrows Särgen Platz zu nehmen. So sitzen sie dort, mit durchsichtigen Plastiksäcken auf dem Kopf, den Blick auf Lawrows Ware gerichtet, die sie mit an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern.
Dann wird der Sargdeckel rechts außen wie von Geisterhand aufgeschoben und aus dem Inneren ist eine junge weibliche Stimme zu hören:
»Hat’s schon aufgehört zu regnen?«
Den Bruchteil einer Sekunde erstarren die Fahrgäste auf der Ladefläche des URAL s und regen sich keinen Deut. Doch dann … dann: Schreckensschreie vermischt mit Ausrufen des Unmuts und viel Aufregung.
»So hol mich der Parastas deiner Mutter!«, schreit eine Sowjetbürgerin mit weit aufgerissenem Mund, aus dem einige Zähne aus gutem Rotgold aufblitzen, bekreuzigt sich dreimal nach orthodoxer Art und schießt in die Höhe, ihre kleine normierte Lederersatzhandtasche der Marke Blümchen vor der Brust; ein anderer Bürger schreit zweimal »Kruzitürken!« und wirft sich mutig nach vorne, auf den Sargdeckel, dabei fällt ihm das Plastiksackerl vom Kopf; eine weitere Frau versucht, aus dem fahrenden URAL abzuspringen und schlägt auf die Hände, die sie an den Kleidern gepackt halten und in den URAL zurückzureißen versuchen; während ein moldawischer Rentner mit der Faust auf das Dach des Fahrerhäuschens eindrischt, um die Aufmerksamkeit Lawrows auf sich zu lenken, und deutet mit
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