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Zuckerleben: Roman (German Edition)

Zuckerleben: Roman (German Edition)

Titel: Zuckerleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pyotr Magnus Nedov
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gelangweilt von ihren weich bepolsterten Bänken, und manche von ihnen ziehen gar die Vorhänge zu, die mit Weinreben, Störchen und der stilisierten Aufschrift MOLDOVA bestickt sind. Womöglich nehmen sie hinter diesen Vorhängen das bescheidene, aber herausgeputzte Backsteinhäuschen – das Bahnhofsgebäude von Dondușeni – gar nicht wahr. Oder die Stationswärterin in ihrer dicken Wattejacke, wie sie mit ihrem verwaschenen Dienst-Fähnchen in der Hand dem vorbeifahrenden Eilzug salutiert, als wäre er ihr Vorgesetzter.
    Die Eisenbahner im Zweiertrupp, die jemandem im Stellwerksgebäude des Dondușenier Bahnhofs winken und mit einem Hammer auf die Räder eines Waggons klopfen, als seien sie auf der Suche nach einer bestimmten Tonfrequenz.
    Der gelb-rot angestrichene Dieselzug nach Bălți und Chișinău, mit jeweils einem länglichen, im letzten Segment nach oben hin gewölbten Lokomotivhals vorn und hinten, von den Einheimischen einfach »Diesel« genannt. Der Diesel erinnert an eine Raupe; er weist keinerlei scharfe Ecken oder Kanten auf, abgesehen vom gitterartigen »Pflug« seiner Lok, der bis knapp oberhalb der Schienen wie ein Bart vom Führerstand herunterhängt und synchron mit dem Rest des Zuges in den Dondușenier Bahnhof einfährt, sein Herannahen stets mit einem schrillen Sirenensignal und quietschenden Bremsen ankündigend.
    Und die Menschentraube an Sowjetbürgern, die mit bunten Plastiktaschen, Kartonbündeln, Koffern, Musikinstrumenten, Stofftaschen, Säcken und mit in warmer Kleidung vermummten Kleinkindern beladen zum Diesel laufen, um auf seinen lackierten Holzbänken einen Sitzplatz zu ergattern; unter ihnen auch solche Bürger, die allein oder ganz ohne Gepäck und ohne Wintermütze mit einer Zigarette im Mund in den Diesel aufsteigen, um sich dort, in dem von den männlichen Sowjetbürgern besonders favorisierten Raum zwischen den Abteilen, mit einem unbekannten Bürger zu verbrüdern, diesen auf ein Stamperl Gespräch, auf eine spontane Runde des populären Kartenspiels »Ziegenbock« oder auf eine selbstgedrehte Zigarette einzuladen.
    Die Fahrt dauert nämlich lange in dem Dieselzug, der im meditativen Qi-Gong-Tempo durch die nordmoldawische Schneelandschaft zieht und nicht allzu selten einfach so stehen bleibt, um nach kürzeren oder längeren Pausen seine Fahrt wieder aufzunehmen.
    Spaß wäre auch im hintersten Wagen des Dieselzuges zu haben, der stets in schummriges Licht getaucht ist. Dort, wo die in milchweiße Fassungen eingelassenen Lampen wie überdimensionale Brustwarzen aus der holzverkleideten Decke des Abteils herausragen, gedimmt, und die schweren Vorhänge zugezogen sind, leuchten zwei rote Notlichter konspirativ über den Ausgängen. Dort ist nur das schwache Geflüster, das amerikanische Stimmengewirr und die Synchronisation Jurij Tolbins aus den in einen Metallkasten eingeschweißten Fernsehern zu hören, im Video-Waggon.
    Kulturkost aus dem Westen wird hier den Bier aus der Plastikflasche, Pepsi-Cola, Wein, Limonade der Sorte »Fröstlein«, Wodka oder einfach nur Soda trinkenden und nicht selten Sonnenblumenkerne kauenden sowjetischen Passagieren verabreicht: Police Academy auf der Hinfahrt nach Chișinău und auf der Rückfahrt über Dondușeni nach Ocnița der beliebte Action-Hit aus Amerika Commando , in dem die unermüdliche steirische Ein-Mann-Armee Arnold Schwarzenegger mit einem überschweren MG in der rechten Hand und einer zerknautschten Zigarrenkerbe im linken Mundwinkel sich hartnäckig durch einen fernen Dschungel durchballert und ab und zu einen lässigen Spruch zum Besten gibt, den die ruhige Stimme Jurij Tolbins etwas zeitversetzt dolmetscht, als wäre Tolbin selbst mit Arnold im Dschungel unterwegs, im Auftrag der sowjetischen Zuschauer im Video-Waggon des Dieselzuges nach Dondușeni, nur eben nie im Bild zu sehen.
    Und all diese Sowjetbürger, die emsig etwas tun und richten und am verschneiten Dondușenier Bahnhof rastlos ihrer Wege gehen, die Züge nach Norden, in den Süden oder in den Osten nehmen, durch den schimmernden Schnee knuspernd. Sie ignorieren allesamt den jungen Pitirim Tutunaru, der sie aufmerksam von der Bahnhofsbrücke aus beobachtet und den ein Instinkt, eine innere Kraft, in die Ferne treibt, weg von dieser Stadt, weg von Dondușeni, weg von der Moldawischen SSR , weg von der Union, in den Westen.
    Tutunaru spielt noch ein wenig mit dem Badeschaum, der nach Wald-Engelwurz riecht, gibt sich einen Ruck, steigt vorsichtig aus

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