Zuckerleben: Roman (German Edition)
Patientin mit seiner linken Hand ab; mit seiner rechten fuchtelt er vor ihrem Gesicht herum. Die Lederjacke knirscht. Die Frau ist in Trance.
»Du wirst ab jetzt keine Beschwerden mehr haben. Deine Schmerzen gehen weg, verstanden?! Morgen kannst du Eis essen.«
Kaspirowskij schnippt mit den Fingern.
Bam! Die Bürgerin mit den schlecht gefärbten Haaren kracht seitlich zu Boden wie ein abgesägter Holzscheit.
Tosender Beifall aus dem Publikum.
Menschen stehen auf, skandieren Kaspirowskijs Namen.
» KASPIROWSKIJ! KASPIROWSKIJ!! KASPIROWSKIJ!!! «
Unbeeindruckt macht der Guru aus dem Podolischen weiter. Und fährt im gleichen höflichen Winnitzer Psychiatrie-Tonfall fort:
»Nächster! Sakrament! Nächster , hab i’ g’sagt!! Her zu mir! Leiden?«
Ein paar Augenblicke später knirscht die körperbetonte schwarze Lederjacke des Winnitzer Psychotherapeuten erneut; ein weiterer Klient ist in Trance versetzt. Kaspirowskij schnippt mit den Fingern und: BAM! Wieder kracht eine Person aus dem Publikum zu Boden.
» KASPIROWSKIJ! KASPIROWSKIJ!! KASPIROWSKIJ!!! «
Wieder und immer wieder tosender Applaus, euphorische Rufe, das Publikum ist komplett aus dem Häuschen.
Kaspirowskij ändert seinen Gesichtsausdruck kein bisschen, als wäre es für ihn ganz normal, dass zweitausend Erwachsene ausflippen, im Stehen seinen Namen schreien und sich die Hände wund klatschen.
Des Gurus Lederjacke knirscht.
Ein schüchterner Grinser blüht auf Kaspirowskijs Antlitz auf, um im Bruchteil einer Sekunde wieder zu erlöschen. Kaspirowskij befiehlt seinem Publikum, wieder still zu sein.
Befehl erteilt, Befehl ausgeführt. Absolute Stille im Konzertsaal.
Der Jenseits-Blick des Gurus schweift über das Publikum. Dann führt Kaspirowskij langsam ein Mikrofon zu den Lippen und spricht mit leiser Stimme hinein.
»Ich möchte jetzt wissen, wer von euch hier im Publikum Probleme mit seiner Wohnfläche hat. Wer von euch Probleme mit seiner Wohnfläche hat, soll die Hand heben. Jetzt!«
Viele Hände schießen in die Höhe.
Kaspirowskij überlegt kurz und zeigt auf einen Opa in der dritten Reihe. Der Mann steht auf und beschwert sich darüber, dass er in seiner Asbest-isolierten Wohnung vor einigen Jahren an Asthma erkrankt sei. »Zeitgleich mit der Einführung der Perestrojka war’s!«, fügt der Opa ohne Vorderzähne geistreich hinzu und bekommt einen Hustenanfall.
»Setzen. Ich werde dich auch so heilen.«
Gelächter im Publikum.
Die Lederjacke knirscht wieder – Guru Kaspirowskij macht eine Handbewegung, und es kehrt wieder Stille ein im Konzertsaal.
Kaspirowskij zeigt auf eine etwa fünfundvierzig Jahre alte Frau mit abgekämpftem Gesichtsausdruck, die im mittleren Sektor des Konzertsaals ihren Sitzplatz hat und ebenfalls aufzeigt.
Die Frau erhebt sich; ein Mikrofon wird ihr gereicht. Sie teilt dem Publikum und dem Guru mit, dass sie seit mehr als zwanzig Jahren auf eine Wohnung warte, ohne von der Stadtverwaltung jemals eine positive Rückmeldung hierzu erhalten zu haben. Bis dato habe sie nur eine schikanöse Behandlung durch Behörden und Miliz erfahren. Ihr Mann, ein chronischer Alkoholiker, habe sie vor Jahren verlassen, und nun habe sie niemanden, der ihr zur Seite steht. So friste sie ihr Dasein mit ihren vier Töchtern in einem Beton-Dschungel aus schäbigen siebenstöckigen Chruschtschowki-Blocks, in einem unbeheizten Appartement. In diesem Tonfall fährt die Bürgerin fort und berichtet von Hauseinfahrten, die nach Urin stinken, abgewrackten Aufzügen, ausgeweideten Stromleitungen und von Klebstoff benebelten Gopniks , die sie und ihre Töchter vor ihrem Appartement mit Schraubenziehern bedrohen und einen Obdachlosen im Hauskeller mit Benzin übergossen und angezündet hätten. Die Bürgerin spricht resigniert, den Blick nach unten gerichtet, wie ein Mensch, der sich bereits daran gewöhnt hat, immer zu verlieren.
Kaspirowskij bittet sie zu sich.
Die Frau schreitet langsam Richtung Bühne, als würde man sie aufs Schafott führen. Guru Kaspirowskij begleitet die Bürgerin mit seinem Jenseitsblick.
Die Bürgerin erreicht die Bühne und bleibt orientierungslos stehen.
Des Gurus Lederjacke knirscht erneut.
Aus dem Inneren seiner körperbetonten schwarzen Lederjacke holt Kaspirowskij ein zusammengefaltetes Blatt Papier und einen Kugelschreiber heraus, fragt die Frau nach ihrem Namen und ihrer Adresse und notiert sich beides auf dem Zettel.
Dann streckt Guru Kaspirowskij aus der Winnitzer Psychiatrie der
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