Zuckerpüppchen - Was danach geschah
gingen ihr durch den Kopf. Die Indios waren arm. Jeder Tourist, auch wenn er sich in einem alten Renault fortbewegte, war in ihren Augen ein reicher Mann. Ihr war kalt. Das zu dünne Sommerkleid war für einen Tagesausflug gedacht. Die Nächte in den Bergen waren empfindlich kühl. Sie dachte an ihre Kinder. Vor ihrer Reise hatte sie darauf bestanden, ein Testament aufzusetzen. “Nicht wegen des Geldes. Ich weiß, daß wir keine Schätze hinterlassen, aber ich will Daniel und Alex in guten Händen wissen. Und auch für Manfred ist noch hin und wieder eine lenkende Hand angebracht.” Hubert war einverstanden gewesen. Auch mit ihrem Vorschlag, Ursel und Gerd als Vormund für die Kinder einzusetzen. “Ja, scheint mir eine ganz brauchbare Idee”, hatte er gesagt. Für sie selbst war das ein extra Vertrauensbeweis gegenüber Ursel gewesen. Sie vertraute ihr im Ernstfall das allerliebste an: ihre Kinder.
“Das haben wir zumindest geregelt”, flüsterte Gaby und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie saß wieder gefangen in einem Käfig von Angst und Einsamkeit. Sie schloß die Augen und versuchte sich wegzuträumen, so, wie sie es früher in besonders Angst einjagenden Situationen immer getan hatte. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihr. Sie lag auf einer grünen Wiese und fühlte die warme Sonne auf ihrem Gesicht. Neben ihr lag ein kleines Lamm, das sie im Nacken kraulte. Von weither hörte sie das Blöken der anderen Schafe. Ein fremdes Geräusch brachte sie wieder zurück in die Wirklichkeit. Hinter ihr tauchten Lichter auf. Im Lichtkegel des Scheinwerfers erkannte sie Hubert und neben ihm zwei dunkle Gestalten. Sie kurbelte die Scheibe hinunter. Fühlte Erleichterung, ihn wiederzusehen. Gesund. “Ich habe drei Indios aufgetrieben”, erklärte er ihr. “Einer behauptet, Mechaniker zu sein...” Er warf einen etwas skeptischen Blick auf die beiden Männer, die sich am Motor zu schaffen machten. “Ich kann sie nicht gut verstehen. Sie sind angetrunken. Am besten, du bleibst im Auto.” Als ob das im Falle eines Falles etwas helfen würde, dachte Gaby und verfluchte die Forellen am Lago de Tota. Die Männer sahen alles andere als zuverlässig aus. Ein fettiger, geflochtener Zopf schaute unter den dunklen Hüten hervor. Die Gesichter waren von der Sonne gegerbt und von vielen kleinen Wunden vernarbt. Ganz unerwartet richtete ein Indio seine Taschenlampe auf Gaby. “Su mujer?” fragte er. “Ihre Frau?” Hubert nickte. Gaby saß unbeweglich und starrte in den Strahlenkreis der Lampe. Sie war sich ihrer weißen Haut bewußt und des dünnen Stoffes ihres Sommerkleides. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, dann schaltete der Mann die Lampe aus und herrschte die beiden Kumpane in einem unbekannten Dialekt an. Sie schienen jetzt genau zu wissen, was zu tun war. Bei der Kupplung hatte sich ein Ring gelöst. Mit viel Mühe stellten sie die Verbindung zwischen Steuerung und Kupplung wieder her. Nach einer Viertelstunde sagte einer: “Finito” und schlug die Motorhaube zu. Hubert zog aus der Hosentasche ein Bündel Scheine. Ohne sie anzusehen, nahm der Mann sie entgegen und stopfte sie irgendwo unter seinen Poncho. Schweigend ging er mit seinen Kameraden zurück zu seinem Wagen. “Nichts wie weg”, sagte Hubert und startete vorsichtig das Auto. Mit pfeifendem Keilriemen, schepperndem Auspuff und notdürftig reparierter Kupplung fuhren sie Richtung Hotel.
“Hattest du keine Angst?” fragte Gaby ihn, als sie am nächsten Morgen am Swimmingpool des Hotels lagen und auf einen Ersatzwagen warteten, der aus Bogota gebracht werden sollte. “Ich meine, was hätte uns nicht alles passieren können?” Am hellichten Tag hatte das Geschehen etwas von seinem Schrecken verloren. Gleichmütig nahm Hubert einen Schluck von seinem Gin Tonic. “Ach, die Indios sind eigentlich ganz friedlich. Ich glaube nicht an die Gruselmärchen. Gut, wenn sie etwas getrunken haben, sieht das schon mal anders aus, aber ich bin nicht so ein Angsthase.” Und mit einem Blick auf ihr Gesicht: “Ich habe ja auch recht gehabt. Ist ja alles gut gegangen.” Er hat immer recht, dachte Gaby und ließ sich auf ihrem Liegestuhl zurücksinken. Ein Mann, der die Situation immer in der Hand hat. Mit ein paar Scheinen wird alles geregelt. Aber er hat nicht einmal nach meinen Gefühlen gefragt. Ich hatte Angst. Warum sagt er immer nur “ich, ich”. Warum nie “wir”?
“Gaby kann sich wirklich gratulieren.” Huberts Mutter strich kurz über
Weitere Kostenlose Bücher