Zuckerpüppchen - Was danach geschah
tagelang kein Wort sagte, nicht, wenn sie Pappi freche Antworten gab. Warum, grübelte Gaby, warum? Weil man die Wahrheit nicht wissen will. Mutti hatte zu Dr. Rehbein gesagt, daß sie sich ja gleich aufhängen könne, wenn sie das glaube, was er sage. Sie konnte mit der Wahrheit nicht leben. Auf einmal fühlte Gaby, wie ihr der Schweiß ausbrach. Es schnürte ihr die Kehle zu. Sie war wie Mutti. Sie fragte auch nicht: “Warum?” Warum zitterte sie so? Warum konnte sie nicht alleine stehen? Warum ließen Angstträume sie Nacht für Nacht nicht zur Ruhe kommen? Warum mußte sie sich mit Tabletten vollstopfen, um einigermaßen funktionieren zu können? Konnte sie auch nicht mit der Wahrheit leben? Wurde sie verrückt? Litt sie unter Verfolgungswahn? Ich muß etwas tun, dachte sie und fühlte, wie die Panik sie überspülte. Ich muß wissen, was mit mir los ist. Ganz klar erkannte sie in diesem Moment, daß sie so nicht länger weiterleben konnte. Und es auch nicht mehr wollte. Aber ich will meine Kinder nicht im Stich lassen, ich will dabei sein, wenn sie langsam erwachsen werden. Ich will, daß sie stolz sind auf ihre Mutter. Sie sollen mich nie so ansehen, wie Hubert es gerade getan hatte. Ihm durfte sie es nicht übelnehmen. Sie hatte ihn enttäuscht. Sie wollte ihm zeigen, daß sie bereit war, sich zu ändern. Mühsam stand sie auf, bewegte ihren Kopf sowenig wie möglich. Sie duschte, zog sich vorsichtig an. “Mammi”, rief Alex, als sie ins Wohnzimmer kam. “Aua weg?” Daniel schmiegte sich an sie. “Bist du wieder gesund?” Sie suchte Huberts Blick, aber er hatte ihr nur kurz zugenickt. “Schön, daß du dich aufgerafft hast.” Ja, sie hatte sich aufgerafft. Mit aller Kraft. Sie wollte die Dinge, welche auch immer es waren, selbst in die Hand nehmen. Als die Kinder später im Bett waren, sagte sie es ihm. “Ich habe schon vor längerer Zeit daran gedacht, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Irgend etwas ist bei mir nicht in Ordnung. Dr. Jaap van Landen ist ein Anhänger der Hypnosetherapie. Vielleicht kann er herausfinden, was mit mir los ist.” Hubert sah sie aufmerksam an. “Bestimmt keine schlechte Idee”, sagte er und ließ die Zeitung sinken. “So geht es ja wirklich nicht mehr weiter.” Er dachte wahrscheinlich immer noch an ihren Eklat. Sie dachte an viel mehr. An ihre Angst, die keinen Namen hatte. An ihre schlimmsten Befürchtungen, denen sie keinen Namen geben konnte.
“Morgen”, sagte sie, “Morgen mache ich einen Termin mit ihm.” Und sie hatte das Gefühl, als beginne damit schon ein neues Leben. Sie hatte ihren Fuß über die Schwelle gesetzt. Sie wußte nicht, was sie dahinter erwartete, aber sie wußte, daß sie nicht mehr zurückwollte. Sie wollte leben.
Der Diwan stand mitten in dem großen Altbauzimmer, bedeckt mit einer bunten Patchwork-Decke. Gaby machte einige Schritte auf den Therapeuten zu, blieb vor dem Diwan stehen. “Wenn ich darauf liegen muß”, sagte sie, und es sollte wie ein Scherz klingen, “dann gehe ich lieber gleich wieder.” Jaap van Landen streckte ihr seine Hand entgegen. “Keine Angst, Sie können sich hinsetzen, wohin Sie wollen.” Er nahm ihr gegenüber Platz, nachdem sie sich nach einem schnellen Blick in die Runde für die schmale Lederbank entschlossen hatte. Sie schlug die Beine übereinander und musterte Dr. van Landen. Wie jung er ist, war ihr erster Eindruck gewesen, jung, mit schütterem Haar, lebhaften blauen Augen und einem rosigen Babyteint. “Rauchen Sie?” Sie nickte, nahm dankend mit zittrigen Fingern eine Zigarette aus seiner Packung und inhalierte ungeschickt den Rauch. Sie rauchte normalerweise höchstens mal nach einem üppigen Essen, aber jetzt erschien ihr die Zigarette wie ein Strohhalm, an dem sie sich festklammem konnte. “Erzählen Sie mir ein wenig von sich”, bat Dr.van Landen sie. “Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich spreche meine Patienten lieber mit dem ‘Du’ an.” — “Macht mir nichts aus.” Eine sympathische Stimme. Eine Stimme, die sie streichelte, die ohne Worte sagte, habe nicht solche Angst, sei ruhig, wir werden das Kind schon schaukeln. Und Gaby erzählte von sich. Sie begann bei ihrer ersten Hochzeit, den beiden Kindern, die sie aus der Ehe hatte, der Alkoholsucht Robbies und ihrer Scheidung. “Erst mit dem Umzug in die Niederlande begannen meine Beschwerden”, fuhr sie fort. “Ich bekam Angst. Obwohl ich doch gerade damals keinen Grund hatte, Angst zu haben. Ich bin mit einem
Weitere Kostenlose Bücher