Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Lebenserwartung deutlich eingeschränkt.”
“Ich denke darüber nach”, sagte Hubert und stand abrupt auf.
In den nächsten Wochen machte er sich mit der Idee vertraut, daß er keine andere Möglichkeit hatte als die Operation. Gefühle oder Ängste darüber äußerte er nicht. Vergeblich versuchte Gaby, zu ihm durchzudringen. Er blockte sich ihr gegenüber ab. Er wollte nicht hilflos sein. Er lieferte sich nicht aus, an nichts und niemanden. Um noch das Gefühl zu haben, die Dinge selbst in der Hand zu haben, entwickelte er eine fieberhafte Aktivität, in welchem Land diese Operation am besten ausgeführt werden könnte. Er telefonierte mit Amerika, sprach mit Spezialisten in der Schweiz, las internationale Fachblätter. Beinahe enttäuscht kam er zu dem Schluß, daß das Herzzentrum in Utrecht eine besondere Qualifikation aufwies. “Dann kann ich auch im eigenen Land bleiben”, sagte er und gab seiner Kardiologin grünes Licht.
“Die Wartezeit beträgt ungefähr drei Monate”, bekam er zu hören. “Wahrscheinliche Operation diesen Sommer.”
“Dann haben wir ja noch Zeit, das Leben zu genießen”, sagte Hubert. Gaby fühlte den Boden unter ihren Füßen wegsacken. Alles, was sie im letzten Jahr in ihrer Therapie aufgebaut hatte, verschwand in einem großen, dunklen Loch. Wie unwichtig war ihre Schreiberei, dieser krampfhafte Versuch, sich von ihm abzunabeln. Von ihrem Hubert, der krank war, der vielleicht nicht mehr lange leben würde. Was war sie ohne ihn? Nichts, ein Nichts. Schreiben, das war doch nur eine Flucht, eine Droge. Die Wirklichkeit war Hubert. Sie wollte nichts anderes, als glücklich mit ihm sein. Sie zitterte stärker als je zuvor. “Du glaubst wieder, nicht alleine stehen zu können”, erklärte Jaap ihr. “Deine Angst, ihn zu verlieren, lähmt dich im wahrsten Sinne des Wortes.”
Wäre es doch so, dachte Gaby und erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Wenn sie gelähmt in einem Rollstuhl sitzen müßte, würde Hubert sie nicht im Stich lassen. Und sie brauchte nie mehr zu laufen. Nie mehr alleine irgendwo zu stehen. Aber Hubert wollte sie doch gar nicht im Stich lassen! Er brauchte sie. Das sagte er. Nur fühlte sie es nicht. Doch erst einmal wollte er noch etwas vom Leben haben. Natürlich mit ihr.
“Ich habe wieder eine Absprache mit ‘Belle Jour’ gemacht.” Er kam von der Firma und überreichte ihr eine festliche Geschenkverpackung mit belgischen Pralinen. “Die ißt du doch so gerne”, sagte er und küßte sie voller Leidenschaft. ‘Belle Jour’. Also gut. Sie konnte ihn ja verstehen. Die Zeit drängte. Er ging nach wie vor zur Arbeit. “Kein Grund, wegen so einer Operation zu Hause zu bleiben. Komme ich nur auf dumme Gedanken.” Was er mit dummen Gedanken meinte, war ihr nicht deutlich. ‘Belle Jour’ gehörte nicht dazu.
“Jeder Mensch hat das Recht, sein Leben so zu leben, wie er es will”, hatte Jaap in einer der letzten Sitzungen zu ihr gesagt. “Auch dein Mann. Aber vergiß dabei nicht dein eigenes Recht. Was willst du! Sind seine Wünsche auch deine Wünsche?” Natürlich nicht, hatte Gaby gedacht und zum erstenmal bedauert, daß sie keinen weiblichen Therapeuten hatte. Ein Mann konnte das nicht richtig begreifen. Die Wünsche eines Mannes waren doch immer anders als die einer Frau. Und wenn sie Hubert halten wollte, und das wollte sie ganz bestimmt, dann mußte sie auf seine Wünsche eingehen. Ob sie nun wollte oder nicht. Sie hatte keine andere Wahl.
Die Nacht im ‘Belle Jour’ glich der ersten aufs Haar. Gaby nahm zwei Beruhigungstabletten, trank, weinte, ließ alles über sich ergehen. Da muß ich durch, hielt sie sich vor. Was macht eine Nacht schon aus? Früher hatte sie Nacht für Nacht Angst gehabt. Und damals war sie ein Kind gewesen. Als Erwachsene durchsteht man das doch leichter. Nur ihr Körper dachte anders darüber. Als sie am nächsten Morgen gerädert und mit verschwollenen Augenlidern aufstehen wollte, durchschoß sie ein stechender Schmerz, und mit einem Aufschrei sank sie zurück auf ihr Bett. “Ischias”, konstatierte ihr Hausarzt. “Wahrscheinlich sehr gestreßt gewesen? Die bevorstehende Operation Ihres Mannes ist ja auch keine Kleinigkeit.” — “Das wird es sein”, murmelte Gaby und war froh, für kurze Zeit ausgeschaltet zu sein. Die schweren Tabletten nahmen den stärksten Schmerz weg, und sie hatte stundenlang Zeit, um über alles nachzudenken.
Nein, sie war nicht geschaffen, um einem Sexclub interessante Seiten
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