Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Überlegungen soweit war, fragte sie sich selbst, wie sie dazu kam, an ihre Kraft zu glauben? Hatte sie die überhaupt noch? War da noch etwas von dem Kind Gaby, das gekämpft hatte, um zu überleben? War nicht in den letzten Jahren alle Kraft und jeder Widerstand ausgespuckt, weggezittert, mit Rotz und Wasser weggespült? Nein, sie fühlte, sie konnte stark sein, wenn man sie ließ. Wenn man sie forderte. Wenn nicht jedesmal, wenn sie sich gerade machen wollte, sie jemand duckte. “Du kannst nicht alleine sein”, sagte Hubert. “Wer von deinen Freundinnen kann dir zur Seite stehen?” Ja, vielleicht war das doch eine gute Idee. Nicht alleine die langen Stunden während der Operation warten zu müssen. Sie dachte sofort an Ursel. Ursel wollte sie neben sich haben. Vielleicht konnte sie dann auch noch über andere Dinge mit ihr reden.
Sie sieht schlecht aus, dachte Gaby vage, als sie Ursel am nächsten Tag umarmte. Ursel trank ihren Kaffee in vorsichtigen kleinen Schlucken und versuchte, ihr aufmunternd zuzulächeln. Das Lächeln sah aus, als ob es ihr Gesicht zerspringen lassen würde. “Du schaffst das schon. Du hast ja schließlich Hubert. Ich kann leider nicht mitkommen. Wir fahren gerade in der Zeit in Urlaub. Eine Gelegenheit, weißt du. Wir können mit Freunden zusammen eine Mittelmeerkreuzfahrt machen. Ich muß wirklich auch an meinen Mann denken.” — “Ja, ja, natürlich.” Gaby verbrannte sich die Zunge an dem heißen Kaffee. Sie hatte vergessen, Milch hineinzutun. Sie war verstört. Ursels Ton stimmte nicht. Natürlich ging ihr eigener Mann vor. Und wenn sie meinte, daß die Mittelmeerkreuzfahrt so wichtig war... Aber sie meinte etwas anderes. Meinte sie, daß sie endlich erwachsen werden müßte? Lehnte sie sich zu stark an Ursel? Fühlte sie sich zu sehr mit Gabys Problernen belastet? “Natürlich schaffe ich es”, wiederholte sie. “Ich dachte nur...” Sie verstummte, versuchte einen neuen Anlauf: “Ich meine, Hubert sagte, wenn eine Freundin während der Operation bei mir wäre, dann wäre das vielleicht besser.” — “Ja, wahrscheinlich hat er recht.” Sie sah sie nicht an. “Komm, iß ein Stück von meinem Butterkuchen. Mit Quark gemacht. Den Boden meine ich.” Gaby gab sich einen Ruck. Die Situation war zu absurd. “Hast du etwas? Bist du mir böse? Du bist so anders?” Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Einen Augenblick schwiegen sie beide. Später dachte Gaby oft, daß sie in diesem Augenblick wieder an einer Wegbiegung gestanden hatten. Ursel wählte den Weg.
“Ich bin dir nicht böse. Natürlich nicht. Du hast nichts getan. Aber ich kann Gerd die Urlaubsreise nicht abschlagen. Ich habe nicht soviel Lust, weißt du. Ich fühle mich in letzter Zeit auch nicht so gut.” Sie schwieg, eine leichte Röte stieg ihr ins Gesicht. “Ich glaube, ich komme in die Wechseljahre.“ Gaby sprang impulsiv auf und umarmte sie. “Du Arme! Hast du starke Beschwerden? Warum hast du nicht eher etwas gesagt?” Ursels Lächeln war jetzt weich. “So schlimm ist es auch wieder nicht. Aber die unregelmäßigen Blutungen, manchmal so schrecklich stark und dann die Hitzewallungen! Ich habe schon daran zu knabbern.” Erleichtert sank Gaby wieder auf ihren Lehnstuhl zurück. “Und ich dachte schon, da wäre etwas anderes. Oft denke ich, ich sehe Gespenster. Ich habe auch solche Angst um Hubert, weißt du. Die Vorstellung, daß sie ihn aufschneiden, all das Blut...” Sie brach ab. Blut bedeutete Angst, Gewalt, Tod.
“Ich glaube, es wäre wirklich gut, wenn jemand bei dir ist. Deine Phantasie geht hin und wieder mit dir durch. Da hat Hubert schon recht. Könnte Jean nicht mit dir mitgehen?”
“Jean kann keinen Urlaub bekommen. Sie hatte es versucht, aber als Erste Operationsschwester ist es für sie unmöglich, mal eben ein paar Tage frei zu bekommen. Noch dazu in der Haupturlaubszeit.” — “Und Dagmar?” — “Dagmar zieht um. Du weißt doch, im Frühjahr haben sie drei Straßen von uns entfernt das schöne Haus mit dem großen Garten gekauft. Im Juli ist der Umzug.” Sie nahm jetzt doch ein Stück von dem Butterkuchen. “Mach dir bloß keine Gedanken. Ich schaffe das schon. Genieße du man deinen Urlaub. Ihr seid ja auch nicht ewig weg. Und vielleicht weißt du eine Telefonnummer, unter der du an Bord zu erreichen bist? Oder in einem Hafen?” — “Ja, vielleicht ist das möglich”, sagte Ursel, und eine fleckige Röte begann ihr Gesicht zu bedecken. Die Arme, dachte Gaby
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