Zügel der Leidenschaft
einen kurzen Brief an ihre Mutter, in dem sie ihr von ihrer Scheidungsabsicht und den Heiratsplänen berichtete. Es hatte wenig Sinn, sie persönlich aufzusuchen. Sie würden hinsichtlich der Scheidung getrennter Meinung sein, denn das waren sie bei wichtigen Themen immer gewesen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Koffer gepackt waren: Man mußte Mays Lieblingsspielzeug aussuchen, Fitz' Bücher und Segelzeug finden und ihre eigene Garderobe mit Blick auf ihre umfangreicher werdende Taille auswählen. Aber schließlich war das Gepäck unterwegs zur Desirée , und nachdem sich Angela von ihrem Personal verabschiedet hatte, machte sie sich auf den Weg zu Violet, um May und die beiden Dienerinnen abzuholen.
Der nachmittägliche Verkehr war sehr dicht, aber in London mit der Kutsche unterwegs zu sein, war immer eine unsichere Angelegenheit, und sie konnte die Zeit nutzen, um letzte Listen für Dinge aufzustellen, die unbedingt noch besorgt werden mußten. Als die Kutsche daher mehrfach kurz anhielt, achtete sie nicht weiter darauf. Doch sie w u rde schließlich unruhig, als das Kopfsteinpflaster der Stadt in einen unbefestigten Weg überging. Sie warf einen Blick aus dem Fenster auf die Umgebung.
Die Stadtlandschaft war von Gärten umgebenen Häusern gewichen. Sie fuhren durch einen Vorort Londons, den sie nicht kannte. Sie klopfte ans Dach der Kutsche, zog das Verdeck fort und rief dem Fahrer zu: »Das ist der falsche Weg, Burton, ich will zum Eaton Square.«
Doch statt einer Antwort hörte sie einen Peitschenknall. Das Tempo nahm zu, und eine Welle der Angst durchschoß sie. Sie klopfte erneut ans Dach der Kutsche und forderte diesmal in schärfstem Befehlston, anzuhalten. Doch die Kutsche raste nur noch schneller weiter, und in ihrer Magengrube breiteten sich höchst unangenehme Vorahnungen aus.
All dies hatte etwas mit ihrem Mann zu tun.
Kein anderer außer Brook würde auf die Idee einer Entführung kommen. Und wenn er wahnsinnig genug war, sie zu entführen, dann war er über alle vernünftigen Verhandlungen hinaus. Sie griff nach der Türklinke, in dem Entschluß, trotz des Tempos aus der Kutsche zu springen. Die verzweifelte Tat ihres Mannes versetzte sie in höchste Beunruhigung. Aber die Klinke bewegte sich nicht, obwohl sie sich mit dem ganzen Körpergewicht dagegen stemmte und versuchte, sie zu öffnen.
Tränen der Frustration stiegen in ihren Augen auf, und Panik überwältigte jeden vernünftigen Gedanken.
Die Tür ließ sich nicht öffnen.
Sie war eingeschlossen.
Die Fenster waren zu klein, um auf diesem Weg zu fliehen. Sie ließ sich zurück auf den Sitz sinken und dachte schaudernd nach: Die rasende Kutsche schleppte sie fort – schleppte sie zu ihrem Gatten. Seit Brook sie damals geschlagen hatte, hatte sie es nicht mehr gewagt, mit ihm allein zu sein. Stets hatte sie dafür gesorgt, daß Diener oder Freunde zugegen waren, jemand, den sie um Hilfe rufen konnte. Das war wohl diesmal nicht möglich. Sie zwang sich, ihre Möglichkeiten logisch zu überdenken.
Auf der Desirée würde sie erst in einer Weile zurückerwartet, dachte sie mit sinkendem Herzen. In Lawton House hatte sie sich bereits auf mehrere Monate verabschiedet. Violet wußte nicht einmal, daß sie wieder in London war. Es würde Stunden dauern, ehe man unruhig würde, überlegte sie voller Angst. Schlimmste Vorahnungen überwältigten ihre Gedanken: Ihre einzige echte Hoffnung bestand darin, Brook auszuzahlen. Aber selbst dieser übliche Weg war nun nicht mehr garantiert. Wenn Brook wie sonst auch gewillt war, sich auf eine Geldsumme einzulassen, warum griff er zu solchen extremen Maßnahmen?
»Na, da bist du ja endlich«, sagte Brook leichthin ein paar Stunden später, als man Angela in einem kleinen Landhaus, das sie nicht kannte, zu ihm in ein Zimmer geschoben hatte. »Meine Männer waren schon ganz verzweifelt von dem vergeblichen Warten auf dich. Aber ich habe ihnen versichert, daß du May schließlich abholen würdest. Es geht ihr übrigens gut, kann ich dir sagen, denn sie haben Violet auch unter Beobachtung gehabt.«
»Warum solche Umstände, Brook? Hätte es nicht einfach gereicht, bei mir anzuklopfen?« Sie sprach in gemäßigtem Tonfall, obwohl ihre Angst sich beim Anblick ihres Gatten verschärfte. Er hatte getrunken und wirkte ungepflegt. Seine Augen glitzerten sie böse an.
Er räkelte sich in seinem Sessel und starrte sie an, als sie in der Raummitte stehenblieb, wo die beiden stämmigen Burschen sie
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