Zügel der Leidenschaft
und herschob, kam ein Mann die Auffahrt herauf. Er hatte einen Koffer in der Hand, aber von ihrem Platz aus war er noch zu weit entfernt, um ihn genauer sehen zu können. Dann löste er sich aus dem Schatten der großen Linden, und die Sonne fing sich in seinem goldenen Haar. »Fitz!« rief Angela, die nun ihren Sohn erkannte. Sie sprang aus ihrem Sessel hoch und rannte ihm die Stufen herab entgegen.
»Fitz is' mein Bruder«, sagte May und trat neben Kits Sessel. »Er is' nett«, erklärte sie sachlich.
»Dein Bruder war auf Reisen, nicht wahr?« sagte Kit.
»Wieder da. Bringt Beschenke für mich mit.« Während sie da so auf der Terrasse warteten, erzählte May ihm ausführlich, welche ›Beschenke‹ der Bruder in seinem letzten Brief versprochen hatte.
Strahlend kam Angela Arm in Arm mit einem schlanken jungen Mann zu ihnen. »Das ist mein Sohn, Gordon Fitzroy«, sagte sie zu Kit, der mit May oben an der Treppe stand. »Fitz, das ist ein Freund von mir aus Amerika, der momentan bei uns wohnt. Mr. Braddock.«
Die Männer schüttelten einander die Hand, und das Lächeln des jungen Mannes erinnerte Kit an dessen Mutter.
»Sie haben doch den Königinnen-Pokal gewonnen, nicht wahr?« fragte Fitz. »Ronnie Lennox sagte, Ihr Segler sei erste Klasse.«
»Ich habe ihn momentan bei Watson in Plymouth, der mir einen neuen Steuerkiel baut. Wenn die Desirée fertig ist, wird sie seiner Meinung nach garantiert der schnellste Rennsegler auf allen Weltmeeren sein. Sie müssen einmal mit mir kommen und sie sich ansehen.«
»Danke, Sir. Das würde ich gern tun.« Er hatte eine gerade Haltung, und seine Augen waren fast auf der gleichen Höhe wie Kits.
»Ich hoffe, du hast Mays Geschenke dabei«, unterbrach Angela in dem Versuch, May zu beruhigen, die bereits am Koffer ihres Bruders zerrte.
»Wie viele willst du denn?« fragte der junge Mann und wandte sich lächelnd an seine kleine Schwester.
»Ganz viele!« quietschte May und sprang mit tanzenden Löckchen von einem Fuß auf den anderen.
»Komm, wir schauen mal nach, ob wir etwas für dich finden«, sagte er und fuhr ihr zärtlich durch die Haare. Er stellte den Koffer ab und bückte sich, um ihn aufzuschnallen.
Als die Geschenke unter Lachen und Entzückensschreien von May in Empfang genommen waren, bekam Angela schließlich eine Erstausgabe von Racines Briefen, die sie dankbar entgegennahm.
»Ich habe sie bei Galanterais gefunden – du weißt, die Buchhandlung in Paris, Maman, wo du am liebsten immer alles einpackst. Pér Fornay erinnerte sich an dich und meinte, das würde dir gefallen.«
»Das tut es«, sagte sie und streichelte das weiche, abgenutzte Leder. »Ein wunderbares Geschenk.«
Beim Abendessen erzählte Fitz von seinen Reisen durch Deutschland und Frankreich, von den Späßen seiner Reisegenossen, von den Freunden, die er in beiden Ländern besucht hatte. »Tante Vicki hat mir auch ein Geschenk mitgegeben, aber das ist noch in meinem Gepäck am Bahnhof«, sagte er. Mit der familiären Bezeichnung ›Tante Vicki‹ meinte er die Kaiserin Friederike in Preußen. Der englische Botschafter in Paris hatte ihn mehreren jungen Damen vorgestellt, berichtete aber anschließend, er habe mit allem beim Sommerball des Duc de Gramont getanzt. »Aber sie segeln alle nicht gern«, fügte er hinzu, als sei das ein Hauptkriterium für seine Zuneigung.
Daher gingen sie gemeinsam am nächsten Tag mit der Shark segeln – ein fröhlicher, glücklicher Ausflug, weil das Meer für alle drei eine solche Quelle der Freude war. Bei ihrer späten Rückkehr schien der Mond so hell, daß das Marschland sich silberglänzend bis zum Horizont hinzog. Fitz trug seine schlafende Schwester zurück zum Haus und übernahm damit seine vertraute Rolle. Er half, May ins Bett zu bringen, scherzte mit Bergie wie mit einer vertrauten Verwandten, fragte sie nach ihrer Familie und dem Geburtstag ihrer Nichte und sang gemeinsam mit ihr ein schwedisches Wiegenlied, bis May wieder einschlief. Anschließend waren sie nach unten gegangen, um zu essen und zu trinken, und als Fitz seiner Mutter später einen Gutenachtkuß gab, entbot er auch Kit wie ein leutseliger Hausherr seinen Gruß voller Zuneigung.
Er wirkt älter als er ist, dachte Kit und sah dem Jungen nach, der auf der Treppe verschwand. Die Entfremdung zwischen den de Graes war offensichtlich der Grund für eine so frühe Reife. Doch Fitz wurde in weniger als einem Jahr volljährig, rief Kit sich ins Gedächtnis, und das war vielleicht
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