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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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er seine Schürfungen, Prellungen, Striemen und Blutergüsse untersuchte. Er konnte sich kaum rühren. Dazu kam der Schnaps, der jetzt so gnadenlos in seinem Schädel hämmerte. Er nahm ein Saridon und schleppte sich durstig zum Lavabo. - Auch das noch! dachte er und schüttelte sich, denn das Mus war nicht versickert. Er mußte es ausschöpfen, und zwar von Hand, und er schöpfte es in den gleichen Plastiksack, in dem schon seine gestrige Unterhose lag. - Wie eigenartig, daß fast alles, was von innen nach außen kommt, so schauderhaft stinkt, dachte er. Den Sack versorgte er im gelben Kübel. Er zog sich an. Er packte seine Sachen, bezahlte die Rechnung und siedelte über ins Hotel Virginia.

    12

    Es ist schwierig, die folgende Woche zu rekonstruieren. Wahrscheinlich hat Zündel wenig erlebt und manches geschrieben. Aber da er seine Blätter und Zettel selten datierte, läßt sich kaum ausmachen, was alles er festhielt in diesen Tagen. Datiert (14. 7.) ist die Beschreibung der Warenhausszene in Ancona, der Szene also, die ich aus Gefühlsgründen an den Anfang meines Berichtes gestellt habe. - Datiert (15. 7.) ist auch ein Eintrag, der zeigt, daß Zündel über seinen Vater wohl Bescheid wußte, auch wenn er sein Wissen niemandem, nicht einmal Magda, anvertraut hatte. Im Wortlaut:

    Mich hat gezeugt ein scheinbar loser Vogel, ein menschlich reicher Mann, schalkhaft und melancholisch, tüchtig und träumerisch, schroff und gewinnend, ein sündiger Asket, ein Eremit mit Liebeshunger. Und alles in ihm war spiegelverkehrt: Herz rechts, Blinddarm links, Leber links; medizinisch gesprochen ein Situs inversus. Gibt's auf zehntausend einen, und er war der eine, mein Vater, und ich sein natürlicher Sohn. - Hat mir vererbt seine hellgrauen Augen und ein groß Maß an Zwiespalt. - Ich sah ihn nie, trag nicht mal seinen Namen. (Und er trug nicht den seines Vaters.)
    Durch Vermittlung irgendeiner Liga kam er im Jahre neunzehn - elf Monate alt - als gänzlich undurchsichtiges Kriegsprodukt über irgendeine Schweizergrenze. Machte den Adoptiveltern Fischer das Leben schwer. War ein begabter Querkopf und früh schon ruhelos. Studierte später dies und jenes, schwängerte ein Mädchen, heiratete es, durfte gnadenhalber einsteigen ins Baugeschäft des Schwiegervaters, erwies sich wider Erwarten als fähig im höchsten Grad. Erweiterte mit Umsicht seine kaufmännischen Kenntnisse. Ließ sich von seiner Frau ein weiteres Kindlein schenken. Hatte eine gesicherte Existenz. Kommt am Vorabend seiner Geschäftsübernahme in die Küche. Sagt: Elisabeth, jetzt hab ich alles, was ich nie wollte: eine Familie, ein Geschäft, eine berechenbare Zukunft. Ich ersticke. Wir wollen sofort packen und neu beginnen, irgendwo. - Mild sagt Elisabeth: Mach nicht solche Spaße, Hans. Hans ist gegangen, allein. Man hat ihn für verrückt erklärt. Ein halbes Jahr darauf bekommt Elisabeth einen Liebesbrief ihres Gatten. Er sei in Alexandria, habe eine Stellung gefunden in einer Baumwoll-Exportfirma und erwarte sie und die Kinder mit Sehnsucht. Elisabeth, inzwischen zwar verhärtet, aber innerlich dennoch schwankend, läßt sich von Verwandten und Bekannten bereden und reist nicht. Es flattern ein paar Briefe und amtliche Papiere von Bern nach Alexandria, von Alexandria nach Bern. Die Ehe wird geschieden. Er vermählt sich aus unbekannten Gründen mit einem Freudenmädchen armenischer Abkunft. Sie wendet sich aus unbekannten Gründen bald von ihm ab.
    Fluchtartig, in tiefster Depression verläßt er Ägypten. Reist auf dem Seeweg nach Genua. Kommt hier Mitte April des Jahres achtundvierzig mit hohem Fieber an. Wird eingeliefert in ein Spital. Wird rasch gesundgepflegt von Schwester Johanna. Die ist sehr jung und warm und hübsch und obendrein noch Schweizerin. Nie empfundene Leidenschaft beiderseits. Am zweiten Mai feiern sie seinen dreißigsten Geburtstag und versprechen sich Treue. Am dritten Mai sagt er: Morgen muß ich weiter. Johanna ist entgeistert.
    Hans sagt: Nähe wird durch Ferne möglich, und an der Gegenwart krepiert die Leidenschaft. Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns. Ich liebe dich, und es ist mir unvorstellbar, ohne dich leben zu müssen. Am vierten Mai sucht Hans Fischer das Weite. Sein Ziel ist unbekannt.
    In Johanna Zündel wütet Schmerz. Sie reist heim zu den Eltern. Sitzt Tag für Tag verstört im Garten. Schneidet sich die Pulsadern auf. Wird gefunden, wird in die Anstalt gesteckt. Dort spürt sie plötzlich, daß etwas in ihr sich

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