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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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Verdächtiges, sah überhaupt nicht mehr viel und spürte, daß der nächste Schnaps ihn fällen würde. Er hielt sich mit beiden Händen an der Theke fest. - Hilfe, alles dreht sich, dachte er, und in diesem Moment wurde es still im Lokal. - Polizei! flüsterte Serafino in Zündels Ohr. Vor dem Eingang hatten zwei Carabinieri Stellung bezogen. Zündel dachte: Hoffentlich folgt eine Razzia mit Schießerei, endlich läuft mal was! - Gleichzeitig merkte er bestürzt, daß er es - wie oft bei reichlichem Alkoholgenuß - urplötzlich ganz enorm pressant hatte. Er trat von einem Bein auf das andere und fragte den Barkeeper stürmisch nach dem WC. - Non c'e, sagt der. - Gott im Himmel, stöhnte Zündel zu Serafino, kein WC, was mach ich jetzt, ich hält's keine Sekunde länger aus! - Geh schnell auf die Gasse, aber piß nicht grad vor den Augen der Bullen, geh um die nächste Ecke! - Zündel sauste hinaus, und es ist klar, daß die beiden verblüfften Carabinieri sofort die Verfolgung aufnahmen. Doch dafür hatte Zündel jetzt keine Augen. Er jagte - schon am Hosenschlitz nestelnd - die Gasse entlang, bog scharf um die nächste Ecke und sah nach etwa zehn Metern linkerhand einen dunklen Hinterhof. Aber die Kette, die auf Oberschenkelhöhe vor diesem Höflein hing, die sah er nicht. - Sein Sturz muß fürchterlich gewesen sein. Nur: Was waren seine Schmerzen, verglichen mit seiner Scham, verglichen mit seiner Verzweiflung über den spontanen Abgang des Harns! Mit nassen Hosen kniete er auf dem Boden und erbrach sich. Und jetzt trafen auch die Verfolger ein. Sie beleuchteten das Häuflein Elend mit ihren Taschenlampen und schienen schnell zu merken, daß der Flüchtige nichts weiter war als ein Betrunkener, der es aus begreiflichen Gründen besonders eilig gehabt hatte. Immerhin tasteten sie ihn ab, leerten seine Taschen und studierten seine Identitätskarte. - Ah, Svizzero, sagte der eine, und der andere mahnte in gebrochenem Deutsch: Schlafen gehen! - Sie halfen ihm auf die Beine, dann verschwanden sie.
    Zündel übergab sich nochmals. Danach war ihm wohler. Als er bleich und hinkend ins Crazy Corner zurückkam, war nur noch knapp die Hälfte der Gäste anwesend. Der Rest hatte von Zündels Ausbruch profitiert und sich rasch abgesetzt.
    Wie siehst du aus! sagte Serafino entsetzt. Du blutest. Und deine Kleider! Komm! - Draußen drückte er Zündel kurz an sich und sagte: Povero, povero amico. -Zündel sagte: So ist das Leben, jedenfalls meines, Ketten, Stürze, Schrammen, und in die Hosen habe ich auch gemacht. Ich muß meine Kleider wechseln. Serafino wartete in der Pippo Bar, gleich neben Zündels Albergo. Und Zündel wusch sich, zog sich um, schaute in sein Taschenspiegelchen und dachte: Ich bin wirklich ein armer Cheib!
    Er roch an seiner Hose. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren dachte er an Rölfli Hunkeler, mit dem zusammen er ein Jahr lang den Kindergarten besucht hatte. Rölfli war jeden Morgen um halb elf naß geworden, und keine Macht der Welt hatte ihn dazu bewegen können, rechtzeitig die Toilette aufzusuchen.
    Konrad und Serafino tranken noch einen Espresso. Dann fuhren sie mit einem Taxi zum Hafen. Sie saßen auf dem Rücksitz. Serafino hielt Zündels Hand und drückte sie fester, als der Wagen weit draußen vor einem geisterhaften Frachtschiff hielt. - Leb wohl! sagten beide gleichzeitig. - In vier bis fünf Wochen bin ich wieder da, sagte Serafino. - Zündel sagte: Ich hacke mir einen Finger ab. -Warum? fragte Serafino. - Ich weiß es noch nicht, vielleicht, um Marias Trost zu erzwingen. - Serafino sagte: Tu das nicht, sie ist doch bei dir, und wenn du auch mich noch brauchst, so rufe nur, ich habe sechs Flügel. -

    In seinem Zimmer erbrach sich Zündel erneut. Halbvoll wurde das kleine Lavabo. Er hoffte, die Sache werde versickern, zog sich aus und legte sich ins Bett. Alles tat ihm weh. Alles drehte sich, sobald er die Augen schloß. Trotzdem dachte er: Ich darf nie vergessen, daß es auch Schönes gibt, daß es Warmes gibt, daß es blühende Bäume gibt und gute Menschen. Das alles will ich dankbar lieben. Das alles habe ich schon immer geliebt, anders läßt sich mein Haß auf das Häßliche gar nicht erklären. Vielleicht ist die Intensität der Verneinung ein Gradmesser der Zärtlichkeit. Ja, so wird es sein. Wer Schlechtes nicht mit Wucht verwirft, weiß nicht, was Liebe ist. Schlaf gut, grauer Konrad.

    In nüchternem Zustand hätte ich das Genick gebrochen, dachte er am späten Sonntagmorgen, als

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