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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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Stimme zu beschimpfen. Es war die Putzfrau, erkennbar an Schrubber und Eimer. Und der Ertappte stand betäubt vor ihr und stierte auf ihre Sandalen. Auch das lebhafte Paar in der Duschkabine schien unter Schock zu stehen, gab jedenfalls keinen Laut mehr von sich. Vielleicht waren es Ausländer, die den Genueser Dialekt der Putzfrau nicht verstanden hatten und das ganze Gepolter und Gezeter auf sich und ihre Tätigkeit bezogen? Wie dem auch sei, Zündel konnte sich schließlich von der Rächerin lösen und zog sich zuerst langsam, dann aber sehr hurtig in sein Zimmer zurück. Er verriegelte die Tür, setzte sich mit ausgetrocknetem Mund aufs Bett und fand, er sei für alle Zukunft menschlich erledigt. Er befühlte das Hörn an der Stirn. Er dachte an seine Strandlektüre. Er ächzte. Vielleicht wurde die Hotelleitung jetzt gerade informiert über die Existenz eines Unholds im zweiten Stock und ermittelte nun aufgrund des Signalements die Zimmernummer? Zündel wartete. Es klopfte niemand.
    Nach einer Stunde wusch er sich am Lavabo. Er war hungrig, traute sich aber nicht aus dem Zimmer und entschloß sich, auf das Nachtessen zu verzichten. Er kroch unter die Decke. Fuß und Stirne schmerzten.
    Wie einsam ich bin, dachte er, und das schreiende Baby in der Mülltonne kam ihm in den Sinn. Später sagte er zehnmal hintereinander: Tierkörperbeseitigungsanlage.

    Eine schlechte Nacht. Schlechte Träume, Zahnweh, Durst und eine verstopfte Nase.

    14

    Wieder folgen - sieht man vom Freitag ab - ereignisarme Tage. Früh am Sonntagmorgen hatte Zündel das Hotel Virginia verlassen und logierte nun im Albergo Armonia. Hier schrieb er viel, beschrieb mit blauer Tinte einiges von dem, was ihm in den vergangenen zwei Wochen äußerlich und innerlich widerfahren war oder was ihn sonstwie umtrieb.
    Mit blauer Tinte: Zündel mußte sich eine Füllfeder gekauft haben; alle früheren und auch die paar späteren Aufzeichnungen aus der Zeit des Genueser Aufenthalts sind mit feinem, schwarzem Filzstift abgefaßt. Von einer weiteren und fast alarmierenden Merkwürdigkeit dieser Armonia-Notizen ist zu berichten: Am Schluß eines Abschnitts - oft schon nach einem Satz - kommentierte Konrad das Geschriebene sofort mit dem Ausdruck »Ach Scheißdreck«. - Zeitweise schien es für ihn keine Äußerung mehr zu geben, die nicht angefochten zu werden verdiente, keine Feststellung, die diesen Namen zu Recht hätte tragen dürfen. Eine Passage im Wortlaut:
    Die Wirklichkeit - seelenruhig fürchterlicher und unbeschreiblicher werdend von Tag zu Tag - zwingt entweder zu totalem Rückzug oder zum jaulenden Anarchismus. - Weder vermag ich den Weltlauf abzulenken in die Richtung eines tragbaren Ideals, noch vermag ich das Ideal so abzubauen, daß, an ihm gemessen, der Weltlauf tragbar erschiene. - Ach Scheißdreck. Der Lebensabend beginnt bei der Geburt. - Ach... Der Gemütslage auf die Spur kommen! (Vgl. Zuberbühler: Du weißt nicht, was dir fehlt!) Mögliche Spuren: Die Frau. Der Beruf. Die Lage der Welt. Die Arglist der Zeit. Das Wetter. Der Stiftzahn. Das Hörn an der Stirn. Eine Unfreundlichkeit. Der Wohnblock. Der Werbeblock. Das Tram. Ein Supermarkt. Die Menschen, die Menschen, die Schmocker-Menschen, die Polit-Menschen, die breiten Staturen, die vereinigte Sachzwang-Lobby, die Grobiane, die Gröler, die Bluffer, die Blender, die ewigen ewigen Wölfe. Vielleicht auch: Das Erbe des Vaters. Die Schwangerschaft der Mutter. Meine Wintergeburt. Saturn? - Ach...
    Stumpfsinn ist ein exaktes Wort, ich liebe es. - Nur das Nein hält wach, aber die Kraft, aber die Kraft. - Das Überlebenstraining beginnt bei der Geburt. - Aufhören ist feig. Weitermachen ist feig. Aufhören ist tapfer. Weitermachen ist tapfer. Und das Leben ist eine Frage der Wortwahl. - Ach Scheißdreck!

    Aus weiß Gott was für einer Stimmung heraus - Lust wird es kaum gewesen sein - ging Zündel am Freitagabend zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Dirne. Sie hatte ihn auf der Gasse angesprochen, und er war gegen seine Gewohnheit stehengeblieben und hatte halb schüchtern, halb weltmännisch gefragt, was es koste. Als er dann, während er hinter ihr herzottelte, an das Bevorstehende dachte, wurde ihm bang. Er wollte es nicht. Er konnte es nicht, und schon jetzt, nach nicht einmal fünfzig Metern, begriff er keinen, der das wollte und konnte. - Warum blüht dieses Gewerbe? Sind die Männer denn Tiere? Oder Automaten? Oder Triebtäter, die auf Zärtlichkeit pfeifen und nicht Herr sind

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