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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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bewegt. Von da an geht es ihr besser. Im eisigen Januar neunundvierzig brachte sie mich zur Welt.
    Vergessen hat sie ihn nie. Sie ist ledig geblieben, hat keinen Mann mehr berührt.
    Nach vier Jahren war sein erstes Lebenszeichen gekommen. Aus Nordschweden. Er sei ihr treu. Ob sie komme? - Sie hatte nicht die Kraft zur Antwort. Erst drei Jahre später schrieb sie einen Brief. Sie schrieb: Unser Sohn hat heute seinen siebenten Geburtstag. - Er reagierte sofort, mit viel Geld, mit vielen Sätzen, nur das Wort ›Wiedersehen< fehlte diesmal. Trotzdem reiste sie im folgenden Sommer zu ihm, ohne sich anzukündigen.
    Sie hat mir über diese Begegnung bis heute nichts erzählt.

    Nun lebt er in Kanada, vorsätzlich einsam, berichtet fast nie.
    Seine Schrift gleicht einer Schar aufgeregt flatternder Vögel.
Sein Deutsch ist kauzig
    Vielleicht war er ein Lump. Einmal muß ich ihn sehn.

    13

    Am Samstag erst (18. 7.) konnte sich Konrad dazu aufraffen, ein paar Worte an Magda zu schreiben. Sie wußte ja nichts über seinen Verbleib und machte sich vielleicht Sorgen, wer weiß. Noch war er schließlich ihr Ehemann. Am Bahnhofkiosk kaufte er eine nichtssagende Ansichtskarte (verzitterte Luftaufnahme des Hafens) und schrieb: Liebe Magda, unser Kater ist bei Judith, und ich habe ein gut Leben hier, kein böses Wort, und alle Tage Gesottenes und Gebratenes. Gruß, K.
    Er warf die Karte in den roten Briefkasten vor der Bahnhofpost. So, dachte er, jetzt hab ich meine Frau zur An- sichtskartenempfängerin degradiert. Sie wird mit Wehmut der dicken Briefe gedenken, die ich ihr früher schrieb. Unschlüssig durchschlenderte er das Bahnhofareal. Er sah, daß hier alle ein Ziel hatten. Keiner ging im Kreis. Mit gespenstischer Unbeirrbarkeit zog jeder seine Bahn, war fraglos unterwegs. Es schien, als klebte allen ein schnurrendes Motörchen am Gesäß. - Wie ausgesprochen rätselhaft ist das alles, sagte sich Zündel und suchte das Pissoir auf. Während er hinabschaute auf seinen Strahl, dachte er: Nur nicht den Bezug zur Wirklichkeit verlieren! Nur das Staunen nicht übertreiben! Eine Woche lang habe ich mich verkrochen, und schon sind mir die Menschen fremd, schon macht das Selbstverständlichste mich stutzig. Dafür kaufe ich mir jetzt endlich wieder einmal eine Zeitung, bitte, ich bin ja alles andere als ein Vogel Strauß. Ich weiß, daß es Aktuelleres gibt als mich. Ich weiß auch, wie sehr das Weltgeschehen auf unser Mitfiebern angewiesen ist. Was ist ein Boxkampf ohne Publikum? Eine blasse Pantomime! Was ist eine Predigt ohne Gemeinde? Ein absurdes Theater! Was wären Politiker ohne Öffentlichkeit? Reglose Masken aus Karton oder Gips! Ja, es ist anzunehmen, daß die Weltgeschichte ohne uns Zuschauer ins Stocken geriete. Unsere Schaulust ist historisch bedeutsam: sie motiviert die Täter zu Taten und sorgt damit für einen bunten, zügigen Geschichtsverlauf. Zündel kaufte sich eine schweizerische Tageszeitung, setzte sich an ein Marmortischchen, bestellte sich einen Campari, und kaum hatte er mit Interesse zu lesen begonnen, da merkte er, daß sein Auffassungsvermögen reduziert war, daß er ständig steckenblieb, daß ihn all diese Sätze und Wendungen zwar nicht langweilten, aber ekelten.

    Kopfballstark, zinsgeschädigt, dauerbequemtauglich. Tiefe Besorgnis. Langbeinige Eva. Humanitäre Geste. Kadaversammeldienst. Und Talsohlen und Zusatzkredite und Kaltluftfronten. O Sumpf.
    Lockvogelpolitik a la Kreml und faires Angebot des Weißen Hauses und dauerbequemtaugliche Schutzräume zur Überbrückung von Jammertalsohlen. Und die Wörter stinken, und die Sätze stinken, als ob sie ausgeschlüpft wären aus den hämorrhoidenbekränzten Mastdärmen pestkranker Vollidioten. Der Aktienmarkt ist gut gelaunt, kompromißlos das Dreilagentoilettenpapier, ausgewogen das Marschflugkörperprogramm. Formulierungen stülpen sich röhrend über stöhnende Fakten. Tatsachen spreizen die Schenkel und gewähren korrupten Sprachstücken Einlaß. Das Substantiv hat ein steifes Adjektiv und rammt die Wirklichkeit von hinten. Endlos, schamlos, trostlos paaren sich Sätze und Sachverhalte, und das Produkt dieser Unzucht heißt Zeitung.

    Am frühen Mittag packte Zündel sein Badezeug in eine Tasche und fuhr mit dem Bus hinaus nach Nervi. Der Entschluß hatte ihn viel Überwindung gekostet, denn die Hitze war groß, der Körper schwer. Umso zufriedener saß er jetzt auf einer unbequemen, schräg zum Meer abfallenden Felsplatte, rieb sich mit

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