Zuflucht Im Kloster
auseinander stehenden Augen, »du magst diesen jungen Mann.«
»Er hat so schöne Musik gemacht«, sagte das Mädchen und seufzte. »Er war freundlich zu mir und war gern bei mir in der Küche. Es war die schönste Stunde meines Lebens. Aber jetzt habe ich Angst um ihn. Was wird mit ihm geschehen, wenn die vierzig Tage vorüber sind?«
»Nun, selbst wenn es dazu kommt, daß er sich stellen muß – denn in vierzig Tagen kann viel geschehen–, wird er nicht seinen Anklägern, sondern dem Sheriff ausgeliefert werden.
Das Gesetz ist streng, aber es versucht, gerecht zu sein. Und bis dahin wird sich der Zorn derer, die ihn beschuldigen, gelegt haben, und selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, können sie ihm nichts tun. Wenn du ihm helfen willst, halte Augen und Ohren offen und sprich, wenn du etwas erfährst, das der Wahrheitsfindung dient.« Dieser Gedanke erschreckte sie offenbar. Wer würde ihren Worten schon Glauben schenken?
»Zu mir kannst du ganz offen sprechen«, fuhr er fort. »Weißt du, was gestern nacht hier vorgefallen ist?«
Sie schüttelte den Kopf und warf einen verstohlenen Blick über ihre Schulter. »Frau Susanna hat mich zu Bett geschickt.
Ich schlafe in der Küche, ich habe nichts gehört… Ich war sehr müde.«
Die Küche war, wie es bei diesen eng beieinander stehenden, hauptsächlich aus Holz gebauten Stadthäusern üblich war, vom Haus abgeteilt, und es war gut möglich, daß sie nach ihrer langen Arbeit fest geschlafen und nichts von dem Geschrei der Gäste gehört hatte. »Aber eines weiß ich«, sagte sie und hob ihren Kopf, und Cadfael sah, daß sie trotz ihrer Zerbrechlichkeit und Jugend ein festes, energisches Kinn hatte, dessen Ausdruck ihm gut gefiel. »Ich weiß, daß Liliwin niemals einem Menschen ein Leid zugefügt hat – weder meinem Herrn noch irgendeinem anderen. Es ist nicht wahr, was man von ihm sagt.«
»Und gestohlen hat er auch nie?« fragte Cadfael leise.
Unbeirrt sah sie ihn mit ihren großen Augen an. »Aus Hunger vielleicht – ein Ei, ein Rebhuhn, das er mit einer Schlinge gefangen hatte, auch einen Laib Brot… das kann sein. Er hat immer Hunger leiden müssen.« Sie kannte dieses Gefühl, denn ihr war es die meiste Zeit ihres Lebens nicht anders gegangen.
»Aber mehr stehlen, als er braucht? Geld oder Gold? Was sollte ihm das nützen? Er ist nicht so… niemals!«
Cadfael bemerkte den Kopf, der in der Eingangstür der Wohnhalle erschien, bevor Rannilt ihn sah, und warnte sie leise: »Lauf zu! Sag, ich hätte dir Fragen gestellt, aber du hättest nichts gewußt!«
Schnell drehte sie sich um und lief schon zurück, als Susanna ungeduldig rief: »Rannilt!«
Cadfael wartete nicht, bis sie hinter ihrer Herrin im Haus verschwunden war, sondern drehte sich um und setzte seinen Weg durch den Durchgang zur Straße fort.
Mit einem Krug Dünnbier vor sich saß Baldwin Peche auf den Stufen zu seiner Werkstatt. Die Tatsache, daß die Straße schmal war und die Hausfronten nach Nordwesten gingen und daher in tiefem Schatten lagen, ließ vermuten, daß er außer Muße und Trägheit noch einen anderen Grund hatte, um diese Zeit untätig hier zu sitzen. Zweifellos waren alle Stadtbewohner, die gestern nacht an der Hochzeitsfeier in Meister Aurifabers Haus teilgenommen hatten, aufgestanden, sobald sie die Nachwirkungen des Weins abgeschüttelt hatten, und begierig, von den sensationellen Ereignissen, bei denen sie dabeigewesen waren, zu erzählen und möglicherweise Neuigkeiten zu erfahren.
Der Schlosser war ein Mann in den Fünfzigern, klein, stämmig, und hatte ein kleines Bäuchlein. Er ging gern auf dem Severn fischen, war aber, was in dieser Stadt recht ungewöhnlich war, ein schlechter Schwimmer. Und es war nur zu wahr: Er hatte eine lange Nase, die jeden Skandal sofort witterte, obwohl er, als bereite es ihm mehr Vergnügen, über seine Mitmenschen im Bilde zu sein, als aus ihnen Profit zu schlagen, von seinem Wissen nur sehr vorsichtig Gebrauch machte. Die blaßblauen Augen in seinem runden, geröteten, lächelnden Gesicht funkelten vor Schadenfreude. Cadfael kannte ihn und wünschte ihm einen guten Morgen, als sei er es, der an den Schlosser herantrat, während er doch nur zu gut wußte, daß Peche auf ihn gewartet hatte.
»Nun, Bruder Cadfael«, sagte der Schlosser freundlich, »ich nehme an, daß Ihr Euch um meine unglücklichen Nachbarn gekümmert habt. Ich hoffe, sie sind unter diesen Schicksalsschlägen nicht zusammengebrochen. Der Junge hat mir
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