Zuflucht Im Kloster
Es hat mehr als ein Meister auf diesem Rebec gespielt, bevor er in deine Hände gelangte. Sicher schweigt er nicht gern.«
Dasselbe ließ sich von ihm selbst auch sagen. Während er arbeitete, floß seine energische, leise Stimme dahin wie ein Strom, und ihr Klang wirkte beruhigend wie das Plätschern von Wasser. Und als er die Bruchstücke des Rebecs auf dem Pergament angeordnet und es, mit einem Leintuch bedeckt, in einen Winkel seiner Werkstatt gelegt hatte, zeigte er Liliwin ein kleines, tragbares Harmonium und ermunterte ihn, darauf zu spielen. Er brauchte ihm nicht zu zeigen, wie man das Instrument handhabte, denn Liliwin hatte ein solches Harmonium schon einmal gesehen, jedoch noch nie Gelegenheit gehabt, darauf zu spielen.
Beim ersten Versuch gelang ihm die Tonfolge recht gut, aber er konzentrierte sich so sehr auf sie, daß er vergaß, mit der linken Hand den kleinen Blasebalg zu bedienen. Mit einem leisen Seufzer erstarb die Melodie. Er lachte verlegen und machte einen neuen Versuch, pumpte diesmal aber zu heftig und vergaß darüber seine rechte Hand. Beim dritten Anlauf wußte er, worauf es ankam. Versunken spielte er eine Melodie nach der anderen. Er bekam ein Gefühl für das Instrument, wurde immer sicherer, entwickelte Ehrgeiz, versuchte Ornamente und mußte feststellen, daß die Möglichkeiten von fünf Fingern begrenzt sind.
Bruder Anselm zeigte ihm ein Pergament mit seltsamen, zeilenweise angeordneten Zeichen, unter denen wieder andere, geschriebene Symbole standen, die er als Wörter erkannte.
Weder das eine noch das andere konnte er lesen. Für ihn waren das nichts weiter als hübsche Muster, ähnlich denen, die Frauen aufzeichneten, um sie nachzusticken.
»Du verstehst dich nicht auf diese Kunst? Dennoch glaube ich, daß du sie in kurzer Zeit erlernen könntest. Dies ist Musik, die niedergeschrieben wurde, damit das Auge ihr ebenso folgen kann wie das Ohr. Siehst du diese Neumen hier? Reich mir das Harmonium, bitte.«
Er spielte eine lange Melodie. »Das, was du gerade gehört hast, steht hier auf dem Pergament. Hör noch einmal zu!«
Wieder spielte er die Melodie. »So, nun sing mir nach!«
Liliwin hob den Kopf und sang die Melodie nach.
»Und nun weiter… Ich werde vorspielen, und du sollst antworten.«
Es war wie ein Rausch. Zeile um Zeile sang Liliwin nach, was Bruder Anselm ihm vorspielte, und es dauerte nicht lange, da begann er, Ornamente und Variationen einzubauen und in höheren Tonlagen zu singen, die mit dem Original harmonierten.
»Ich könnte einen Sänger aus dir machen«, sagte Bruder Anselm und lehnte sich hochzufrieden zurück.
»Ich bin schon ein Sänger«, antwortete Liliwin. Er hatte noch nie zuvor gewußt, wie stolz er darauf war, dies von sich sagen zu können.
»Das glaube ich. Deine und meine Musik gehen verschiedene Wege, aber beide bestehen aus diesen kleinen Zeichen und den Tönen, die sie symbolisieren. Wenn du eine Weile bei uns bleibst, werde ich dir beibringen, wie man sie liest«, versprach Anselm, der mit seinem Schüler sehr zufrieden war. »Aber nun nimm das Harmonium, übe ein paar deiner eigenen Lieder, und sing sie mir vor.«
Liliwin spielte einige seiner Lieder und mußte sich beschämt eingestehen, daß viele von ihnen frivol und anstößig wirken mußten. Das galt jedoch nicht für alle. In seinem Lieblingslied ging es um das erste Erwachen der Liebe, und als er sich die Worte ins Gedächtnis rief, dachte er an Rannilt, die ebenso arm war, ebenso herumgestoßen wurde wie er, in ihrer verräucherten Küche, ihrem Kleid aus grobem Stoff, mit ihrem schwarzen Haar und dem blassen, ovalen Gesicht, in dem die Augen leuchteten. Er tastete nach der Melodie. Seine linke Hand war sicherer geworden und handhabte den Blasebalg mit Geschick. Er spielte und sang sein Lied und war so darin vertieft, daß er kaum bemerkte, wie eifrig Bruder Anselm seine Zeichen auf ein Pergament schrieb.
»Kannst du dir vorstellen«, sagte Anselm und zeigte ihm strahlend das Pergament, »daß das, was du gerade gesungen hast, jetzt hier niedergeschrieben ist? Nein, nicht die Worte, aber die Melodie. Ich werde es dir später erklären – du wirst diese Zeichen schreiben und lesen lernen. Das war eine sehr schöne Melodie. Man könnte sie als Thema für eine Messe verwenden. Nun ja, das ist genug für heute. Ich muß jetzt gehen und mich auf den Vespergottesdienst vorbereiten.
Morgen machen wir weiter.«
Liliwin stellte das Harmonium vorsichtig wieder an seinen Platz und
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