Zuflucht Im Kloster
einen Botengang ausführte, konnte für den Irrtum seiner Herrin jedoch nicht verantwortlich gemacht werden.
»Du wirst ihn dort drüben im Hauptgebäude finden, bei Bruder Anselm.« Widerwillig erklärte er ihr den Weg, denn er mißbilligte es, daß Anselm diesen Mann so freundlich behandelte, machte jedoch Rannilt keinen Vorwurf – bis er bemerkte, wie freudig ihr Gesicht sich aufhellte und wie leichtfüßig sie die Richtung einschlug, die er ihr angegeben hatte. Dieses Mädchen war viel zu fröhlich für eine Magd, die einen Botengang ausführte! »Gib acht, mein Kind, daß du deinen Auftrag mit der geziemenden Schicklichkeit ausführst.
Gegen ihn sind sehr schwere Klagen vorgebracht worden. Du darfst eine halbe Stunde mit ihm reden, und in dieser Zeit solltest du ihn anhalten, seine Seele gründlich zu erforschen.
Geh nun also und führe deinen Auftrag aus!«
Sie war stehengeblieben, sah ihn groß an und stammelte gehorsam Dank. Ihre Augen aber waren unergründlich und leuchteten beunruhigend. Noch einmal verbeugte sie sich bis zum Boden, sprang dann aber auf wie ein Engel, der zum Himmel fährt, und lief auf das Hauptgebäude zu.
Das Gebäude erschien ihr riesig. Es war ein viereckiger, wuchtiger Bau, dessen Korridore an einem grasbewachsenen Innenhof entlang führten, in dem gelbe, weiße und rote Frühlingsblumen blühten. Hin und her gerissen zwischen Furcht und Entzücken eilte sie einen Gang entlang, bog in einen zweiten ein, warf ehrfürchtige Blicke in die gewölbeartigen Zellen, die lediglich eine Bank und einen Tisch mit einer schrägen Platte enthielten und leer waren bis auf eine, in der ein ehrwürdiger Gelehrter saß, der eines dieser Wunderwerke mit den vielen seltsamen Zeichen abschrieb und nicht einmal aufsah, als sie vorbeiging. Am Ende dieses Ganges hörte sie Musik aus einer solchen Zelle dringen. Sie hatte noch nie zuvor ein Harmonium gehört, und ihr kam es vor, als sei dies Elfenmusik, bis sie eine sanfte, helle Stimme vernahm, die sie sofort als die Liliwins erkannte.
Er saß über das Instrument gebeugt und hörte sie nicht eintreten. Auch Bruder Anselm, der dabei war, den Rücken des Rebecs zusammenzufügen, bemerkte sie nicht. Schüchtern blieb sie in der Tür stehen, und erst als Liliwin geendet hatte, wagte sie es, den Mund aufzumachen. In diesem entscheidenden Augenblick wußte sie nicht, wie der Empfang aussehen würde. Woher sollte sie die Gewißheit nehmen, daß er seit jener Stunde, die sie gemeinsam verbracht hatten, an sie gedacht hatte, so wie sie unablässig an ihn gedacht hatte?
Vielleicht hatte Susanna recht gehabt, und sie machte sich nur etwas vor.
»Wenn Ihr erlaubt…«, begann Rannilt zaghaft.
Beide blickten auf. Der alte Mann sah sie ruhig, gütig und mit mäßiger Neugier an. Der Junge starrte, riß den Mund auf und errötete in ungläubiger Freude, stellte sein seltsames Musikinstrument neben sich auf die Bank, ohne es anzusehen, und stand langsam und vorsichtig auf, als könne jede unvermittelte Bewegung bewirken, daß sie sich wie Frühnebel in Luft auflöste und verschwand.
»Rannilt… du?«
Wenn es ihr wirklich die Torheit eingegeben hatte, ihn im Kloster zu besuchen, so war sie nicht die einzige, die dieser Torheit erlag. Sie sah Bruder Anselm an, der in seiner viel Fingerspitzengefühl erfordernden Arbeit innegehalten hatte, um sich nicht ablenken zu lassen.
»Wenn Ihr erlaubt… Ich möchte mit Liliwin sprechen. Ich habe ihm etwas mitgebracht.«
»Aber natürlich«, sagte Bruder Anselm freundlich. »Hast du gehört, mein Junge? Du hast Besuch. Geht nur und genießt den schönen Tag. Ich werde dich in den nächsten Stunden ohnehin nicht brauchen, und deine Übungen werde ich dir später abhören.«
Wortlos, wie im Traum, gingen sie aufeinander zu, nahmen sich an der Hand und stahlen sich hinaus.
»Ich schwöre dir, Rannilt: Ich habe ihn nicht niedergeschlagen, ich habe ihn nicht bestohlen, ich habe ihm überhaupt nichts getan.« Er hatte es schon mindestens ein dutzendmal beteuert, dort, im schattigen Vorbau, wo er seine Decken zusammengefaltet, den dünnen Strohsack ausgebreitet und sein armseliges Handwerkszeug unter der Steinbank verborgen hatte, als müsse er sich dessen schämen. Und dabei war es, wie sie ihm ein dutzendmal geantwortet hatte, gar nicht nötig gewesen, es auch nur einmal zu sagen.
»Ich weiß, ich weiß! Ich habe es keinen Augenblick lang geglaubt. Wie könntest du daran zweifeln? Ich weiß doch, daß du ein guter Mensch
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