Zuflucht im Teehaus
wandte den Blick nicht von mir, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Bedeutete das, daß er mich nicht verraten würde? Ich senkte den Kopf und versuchte tief durchzuatmen, um ruhiger zu werden. Schließlich erhob sich Wajin und durchschritt mit seinem Disziplinierungsstock die Reihen der Mönche und Gläubigen. Er schlug nicht so viele wie Klostervorsteher Mihori bei meiner letzten Gebetssitzung. Wajin züchtigte nur die Leute, die sich vor ihm verbeugten, während er ganz langsam durch die Reihen ging. Ich bewegte mich genausowenig wie Mr. Ishida. Wajin schritt an uns vorbei.
Das Zen-Frühstück war wieder so unappetitlich wie das vorige Mal. Mr. Ishida schien es allerdings köstlich zu finden und nahm sich sogar noch eine zweite Portion Brei. Ich hätte ihm gern gesagt, daß Wajin sich in dem Raum befand, aber das war nicht möglich, weil wir uns nicht unterhalten durften. Als wir unsere Schalen ausgeschwenkt und getrocknet und einem der Mönche zurückgegeben hatten, sprach Wajin ein Gebet, das offiziell das Schweigen beendete. Daraufhin machten sich die Mönche auf den Weg, um ihre Pflichten zu verrichten, und die Gläubigen strömten aus dem Tempel. Ich führte Mr. Ishida durch den Garten zu einem kleineren Holzgebäude, in dem sich die Archive befanden.
»Ist es nicht wunderbar, meine Enkelin, nach einer fast sechshundert Kilometer langen Reise endlich Gelegenheit zu haben, die Schätze von Horin-ji zu sehen?« fragte Mr. Ishida mich mit lauter Stimme.
»Ja!« Es wäre mir lieber gewesen, er hätte nicht gar so übertrieben, aber er hörte nicht auf, von den Schätzen Horinjis zu schwärmen, als wir das Gebäude betraten.
»Das Werk von Mitsuhiro zu sehen ist immer schon mein Traum gewesen. Entschuldigung, könnten Sie uns den Weg zum Archiv zeigen?«
Ein Mönch mit rundem Babygesicht sah ihn verblüfft an. »Das Archiv öffnet erst am Nachmittag.«
»Genau deshalb sind wir jetzt hier, wir wollen den Massen aus dem Weg gehen. In meinem Alter kann ich mich nicht wie eine Sardine in eine Dose zwängen lassen. Ich hatte eigens einen Termin für den Morgen vereinbart!« Mr. Ishida schlug mit seinem Gehstock auf den Boden, um dem, was er gesagt hatte, Nachdruck zu verleihen.
Der Blick des Mönchs wanderte über Mr. Ishidas abgetragene schwarze Priesterrobe und die Bastsandalen. Die Verkleidung tat ihren Dienst. Sie zeugte von Alter und Würde. Ich spürte, wie der Mönch unsicher wurde.
»Wir müssen fragen, was Jiro-san dazu sagt. Jiro-san muß das entscheiden.«
Jiro, der Mönch, der für die Antiquitäten zuständig war, hatte ein altersloses Gesicht, das wie aus Marmor gehauen wirkte. Ich erkannte in ihm den strengen Mönch, der mich hinter der Hecke beim Haus der Mihoris ertappt hatte, und senkte den Blick, während Mr. Ishida unsere Pilgerfahrt beschrieb.
»Sie haben Ihre Ausbildung in Kyoto gemacht, Obosan? In welchem Tempel?« Jiro benutzte Mr. Ishida gegenüber die Anrede, die Priestern vorbehalten ist.
»In Ryoan-ji.« Mr. Ishida nannte den berühmtesten Zen-Tempel von ganz Japan, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Dann kennen Sie sicher den ehrwürdigen Klostervorsteher …«
»Ja, wir haben zusammen die Ausbildung gemacht. Und im Verlauf der Jahre habe ich eine Reihe von Gutachten für seinen Tempel erstellt. Meine Aufgabe heute ist es, die Echtheit eines unserer Schätze zu überprüfen. Durch einen Vergleich mit den Werken, die Sie haben, hoffe ich, Antwort auf meine Fragen zu finden. Ich habe meine Enkelin mitgebracht, die nächstes Jahr in ein Kloster in Kyoto eintreten möchte.«
Ich schluckte. Der Mönch sah mich kurz an, wandte sich aber gleich wieder Mr. Ishida zu. »Welchen unserer Schätze wollen Sie sehen, Obosan? «
»Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht, hätte ich gern Gelegenheit, Ihre Mitsuhiro-Schriftrolle zu betrachten.«
»Ah. Wir haben tatsächlich eine solche Rolle, aber leider können wir sie zu dieser Jahreszeit wegen der hohen Luftfeuchtigkeit nicht zeigen. Sie können sie im Oktober studieren.«
Mit einer solchen Auskunft hatten wir gerechnet. Ich sagte das, was wir zuvor besprochen hatten. »Das Tokyo National Museum hat seine Schriftrolle dem Louvre für eine Ausstellung überlassen. In Europa ist der Sommer dieses Jahr doch besonders heiß, nicht wahr, Großvater?«
»Das stimmt. Das Tokyo National Museum weiß, wie wichtig es ist, seine Schätze der Allgemeinheit zugänglich zu machen, genau wie wir in Kyoto. Erst letzten Monat hat
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