Zuflucht im Teehaus
Angelegenheit fast schon als unlösbares Rätsel abgeschrieben, als mir ein Katalog mit dem Foto einer Schriftrolle in die Finger kam, die die Reisen eines Diplomaten von Kyoto nach Tokio beschrieb. Sie war auf das frühe siebzehnte Jahrhundert datiert. Das fand ich ziemlich schnell heraus, weil der Katalog zum Glück in Englisch verfaßt war; er war anläßlich einer Ausstellung publiziert worden, die 1975 vom Tokioer National Museum ans New Yorker Metropolitan Museum of Art gegangen war.
»Karasumaru Mitsuhiro«, sagte ich, als die Bibliothekarin wieder in den Raum kam. »Was wissen Sie über ihn?«
»Aus der Momoyama-Zeit? Er war Aristokrat und mußte deshalb nicht arbeiten, baute sich aber dennoch eine doppelte Karriere als Diplomat und Künstler auf. Ich würde Ihnen gern noch mehr über ihn erzählen, aber ich muß die Bibliothek jetzt wirklich schließen.«
»In welchem Raum des Museums befinden sich seine Werke?« Ich hatte vor, am nächsten Morgen wiederzukommen.
»Seine Werke sind Teil einer Wanderausstellung, die sich gegenwärtig im Pariser Louvre befindet. Wie schade!«
Tja, wieder mal Pech gehabt. »Könnte ich mir diesen Katalog ausleihen? Ich habe das Gefühl …«
»Tut mir leid. Wir sind keine Leihbibliothek.« Sie schwieg einen Augenblick. »Wenn Sie sich über Mitsuhiro informieren wollen, kann ich Ihnen einen Ort nennen, an dem sich eins seiner Werke befindet. Wir haben es uns auch schon mehrfach ausgeliehen.«
»Welches Museum ist das?« Ich steckte meine Fotos wieder in den Umschlag.
»Es ist kein Museum, sondern Horin-ji, ein Zen-Tempel in Kamakura. Mit der JR-Yokosuka-Linie brauchen Sie ungefähr eine Stunde …«
»Ich kenne den Ort«, krächzte ich. Ich war so verblüfft über diese Information, daß ich vergaß, meine Sachen aus dem Schließfach zu holen. Daß ich sie nicht dabeihatte, merkte ich erst an der Ueno Station. Ich eilte noch einmal zurück, aber inzwischen hatte das Museum seit einer halben Stunde geschlossen. Ich würde meine Sachen nicht vor neun Uhr am nächsten Morgen wiederbekommen. In der Tasche meines Jeansrockes fand ich ein bißchen Geld, aber das war’s auch schon.
Es hatte keinen Sinn, sich über etwas Sorgen zu machen, das ich am nächsten Morgen abholen konnte, also setzte ich mich neben einen der Brunnen und versuchte mir die Einzelheiten meines Besuchs in Denen-Chofu ins Gedächtnis zu rufen. Mr. Ideta hatte mich gefragt, ob seine Schriftrolle in Sicherheit sei. Ich war seinerzeit davon ausgegangen, daß er damit die mit Klebestreifen notdürftig reparierte Rolle an der Wand gemeint hatte. Er hatte mir damals zu sagen versucht, daß seine Schriftrolle unbeschädigt sei, doch da war Haru wieder ins Zimmer gekommen. Und ein paar Tage später war er tot gewesen.
Ich hatte keinerlei Garantie dafür, daß meine Schriftrolle tatsächlich von Mitsuhiro stammte, deswegen mußte ich sie unbedingt mit einem Original vergleichen. Trotz meiner Angst vor den Mihoris mußte ich also noch einmal nach Horin-ji.
Aber ich würde nicht allein hinfahren, das war zu unsicher. Andererseits konnte ich weder Hugh noch Angus bitten, mich zu begleiten; sie würden zu sehr auffallen. Ich brauchte jemanden, dessen Gesicht beim morgendlichen Gebet nicht auffiel. Einen älteren Japaner mit tadellosen Manieren. Jemanden wie Mr. Ishida, der vermutlich gerade seinen Laden zusperrte und sich auf einen ruhigen Abend zu Hause freute.
»So essen die Leute also heutzutage Nudeln? Mir geht das alles viel zu schnell.« Mr. Ishida starrte düster die weißen somen- Nudelnan, die in dem kleinen In-Restaurant, in das ich ihn zum Abendessen eingeladen hatte, an uns vorbeitrieben.
Wir saßen nebeneinander an einer langen, ovalen Theke, in deren Mitte ein kühler Bach floß. Unsere Aufgabe bestand darin, mit den Eßstäbchen Nudeln aus dem Bach zu fischen und auf den eigenen Teller zu verfrachten. Danach gab man Gemüse dazu und tauchte das Ganze in Sojasauce. Ich hatte Mr. Ishida hierher eingeladen, weil er vegetarische Nudelgerichte liebte, dabei aber nicht in Betracht gezogen, daß er in seinem Alter Mühe haben würde, die Nudeln aus dem Bach zu fischen.
»Ja, heute ist das Wasser besonders schnell. Sonst ist das nicht so«, flunkerte ich und holte ihm mit meinen Eßstäbchen eine große Portion heraus. Er bedankte sich brummelnd, und nachdem wir das Dankgebet itadakimasu gesprochen hatten, machten wir uns über die Nudeln her.
Jetzt meldete sich der Hunger, den ich am Morgen
Weitere Kostenlose Bücher