Zuflucht im Teehaus
sammeln. Die Hüte dienen mehreren Zwecken: Einerseits schützen sie die kahlrasierten Schädel vor Sonne und Regen und andererseits verhindern sie durch ihre breiten Krempen, daß die Mönche die Menschen sahen, denen sie gegenüberstanden. So konnten sie auch während des Betteins meditieren.
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, daß die Mönche in der abgeschlossenen Welt von Horin-ji so sicher waren; das gefährlichste, womit sie es zu tun hatten, waren vermutlich die zweifelhaften hygienischen Verhältnisse und die ständigen Beinkrämpfe vom Sitzen im Lotussitz. Aber die Tempelpflichten waren wahrscheinlich kein Spaß. Ich beobachtete einen Mönch in einer grauen Arbeitskutte, der die Erde unter einem Hortensienbusch umgrub, den Rücken gekrümmt. Als ich mich näherte, erhob er sich langsam und wandte sich mir, die Hände zum gassho- Gruß,gefaltet, zu.
Es war der Läufer, den ich am Vorabend auf Akemis Pfad gesehen hatte. Als er mich erkannte, verbeugte er sich.
»Also treffen wir uns wieder«, sagte er, als er sich erhob.
»Ja. Ich war gerade beim Gebet.«
»Tatsächlich? Sie sind doch Ausländerin, oder?«
»Ich bin zur Hälfte Japanerin, aber ich lebe hier«, sagte ich, wie um mich zu verteidigen.
»Im Teehaus?«
Eigentlich wollte ich antworten, nein, in Tokio, aber vielleicht hatte er ja durch die kaputten Fenster des Teehauses geschaut und gesehen, daß ich darin wohnte.
»Ich halte mich zum Meditieren ein paar Tage lang im Wald auf. Ich habe die Erlaubnis dazu«, fügte ich hinzu.
»Ja, die Mihoris sind sehr großzügig. Aber was für ein merkwürdiger Ort zum Wohnen.« Er legte seine Schaufel auf den Boden und trat näher.
»Ich möchte alles über den Buddhismus erfahren«, sagte ich und trat einen Schritt zurück.
»Wie gefällt er Ihnen?« Er bewegte sich nicht weiter, folgte mir nur mit seinem durchdringenden Blick.
Jetzt war ich nicht mehr in der Lage, die lobenden Worte auszusprechen, die ich eigentlich hatte sagen wollen. Statt dessen sagte ich: »Ich finde, die Zen-Meditation ist sehr streng. Es war anstrengend und schmerzhaft.«
»Nach einer Weile wird der Schmerz zum Freund«, sagte er mit sanfter Stimme. »Aber den Schmerz haben Sie ja bereits kennengelernt.«
»Ich verstehe nicht …«
»Sie trainieren doch zusammen mit der Mihori-Tochter Judo, nicht wahr?« Er deutete auf meine weite Hose. Erst jetzt wurde mir klar, daß sie Teil einer Judo-Ausrüstung war. »Und Ihre Verletzung …« Der Mönch streckte einen Finger aus, um meine blaue Wange ganz leicht zu berühren.
Ich war wie gelähmt vor Schreck darüber, daß ein Japaner mich berührt hatte – nicht einmal meine Verwandten machten das freiwillig –, und auch darüber, daß diese Berührung unbestreitbar sinnlich war. Auch nachdem er seine Hand wieder weggenommen hatte, spürte ich ihre Wärme. Genau wie Klostervorsteher Mihoris Schlag empfand ich sie als transformierend; es war, als habe der Mönch den blauen Fleck nicht nur berührt, sondern ihn auch weggenommen. Es war etwas Überirdisches an diesem Mann und seiner Berührung; ich fragte mich, ob er in der Akupunktur oder einer anderen Form der Heilkunst ausgebildet war.
»Ich mache kein Judo. Ich hatte nur einen Unfall«, sagte ich, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte.
Er nahm die Schaufel wieder in die Hand. »Dieser Tempel ist seit jeher ein Zufluchtsort. In den Zeiten der Shogun konnten Frauen sich nicht offiziell scheiden lassen, egal, wie sehr sie von ihren Männern mißhandelt wurden. Aber wenn sie wegliefen und hier Unterschlupf suchten, konnten ihre Männer ihnen nichts anhaben. Die Frauen nannten den Horin-ji damals den Scheidungstempel.«
»Aber er ist heute kein Kloster für Frauen mehr! Die Priester und Mönche sind ausschließlich Männer! Frauen haben keine Chance, aufgenommen zu werden.«
»In der Zen-Tradition ist manches unveränderlich. Aber Frauen können unsere morgendlichen und abendlichen zazen- Übungenjederzeit besuchen.«
»Sie wissen so viel über die Geschichte des Tempels – darf ich Sie da auch etwas über die Mihoris fragen?« sagte ich.
»Ihre Freunde, die Ihnen erlaubt haben, hier zu wohnen?« Er klang amüsiert.
»Woher stammt Mrs. Mihori? Soweit ich weiß, kommt sie nicht aus Kamakura.«
»Ich glaube, sie kommt aus Tokio. Aber ich höre kaum Klatsch. Hier im Kloster und im Tempel sind wir sehr schweigsam. Ein zufälliges Treffen mit einer Fremden wie Ihnen ist sehr ungewöhnlich.«
»Nun, ich muß los.
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